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# taz.de -- Pathologisches Lachen und Heulen: So lustig, es ist zum Weinen
> Gefühlsausbrüche in der Öffentlichkeit erwecken oft Misstrauen statt
> Empathie. Unsere Autorin kennt das. Sie plädiert für mehr Verständnis.
Bild: Können manchmal gleichzeitig auftreten: widersprüchliche Gefühle
Meine Mutter war schon immer eine Frau, die nicht allzu viele Emotionen
zeigte. Selten sah ich sie in [1][Tränen ausbrechen], noch seltener mit
einem Lächeln auf den Lippen. Wenn sie weinte, versuchte sie es heimlich,
oder dabei so leise zu sein, dass wir sie nicht hören konnten.
Deshalb erinnere mich genau an das erste Mal, als meine Mutter so laut und
extrem lachte, dass sie im nächsten Moment zu weinen anfing. Sie zu
beruhigen war nahezu unmöglich. Sie schien sich selbst nicht mehr unter
Kontrolle zu haben. Ihre Stimmung wurde unberechenbar. Nichts Bestimmtes
musste passieren, um einen Anfall auszulösen, auf einmal lachte sie los,
bis die Tränen im nächsten Moment flossen. Niemand brachte sie zum Arzt,
und eine Diagnose sollte erst Jahre später gestellt werden: pathologisches
Lachen und Weinen.
Mein Vater fand das alles unsinnig. Er beschrieb meine Mutter als „eben
emotional“ [2][und „hysterisch“]. Ihre Krankheit war für ihn ein ganz
normaler Zustand. Auch für ihren Freundeskreis schien meine kranke Mutter
nicht anders zu wirken als sonst. Ihre Freunde lachten sie während ihrer
Anfälle aus, rieben ihr Kolonya ins Gesicht (ein Desinfektionsmittel, meist
mit Zitronenduft, das als Hausmittel bei leichten körperlichen Beschwerden
verwendet wird) oder gaben ihr eine Ohrfeige. Sie nahmen an, das würde ihr
helfen. Sie sagten ihr, sie solle vernünftig sein und sich beruhigen. Sie
dachten, sie könne ihre Anfälle sicher irgendwie steuern. Ich war noch ganz
klein und wusste auch nicht, was ihr fehlte. Für ihr Umfeld galt meine
Mutter nun als Frau, die nur an Aufmerksamkeit interessiert war, ihre
Krankheit rückte in den Hintergrund.
## Emotional, unberechenbar, hysterisch
Zwanzig Jahre später schaute ich mir ein Youtube-Video an, in dem jemand
ein lustiges Gesicht machte. Plötzlich fing ich an, so krass zu lachen, bis
die Tränen liefen – und dann weinte ich, als wäre mir etwas Schreckliches
passiert. Seitdem bin auch ich eine emotionale, unberechenbare, hysterische
Frau.
Dr. Google spuckte den Begriff pathologisches Lachen und Weinen aus.
Beschrieben wird es als [3][unwillkürliches, krampfhaftes Lachen oder
Weinen], das durch unspezifische Reize ausgelöst werden kann und in Form
eines Automatismus oder einer Stereotypie abläuft. Es wird nicht von einer
entsprechenden Gefühlsregung begleitet und kann unvermittelt ins Gegenteil
umschlagen.
Was genau im Gehirn passiert, welche Regionen geschädigt sind und die
genauen Gründe für die Krankheit sind noch unbekannt. Auslöser können ein
Schlaganfall oder Epilepsie sein. Auch Multiple Sklerose, Schizophrenie
oder ein Hirntumor sind mögliche Erklärungen. Eine Heilung gibt es nicht.
Generell ist die Krankheit sehr selten, selbst einige Ärzt:innen kennen
sie nicht, weshalb viele Menschen nie oder falsch diagnostiziert werden.
Auch ich habe bis heute keine ärztliche Diagnose erhalten, hatte nie
epileptische Anfälle oder Hirnschäden. Trotzdem misslingt es mir wieder und
wieder, meine Regungen zu kontrollieren. Woher die Anfälle bei mir stammen,
weiß ich nicht.
## Der lachende Mann aus Wales
Bekannt wurde der Begriff „pathologisches Lachen“ erst 2007, als der Fall
eines Mann namens [4][Paul Pugh] Aufmerksamkeit erregte. Nachdem der
Waliser eines Abends von einer Gruppe Männer angegriffen wurde, die seinen
Schädel brachen und er daraufhin zwei Monate im Koma lag, verlor auch er
die Kontrolle über seine Gefühlsregungen.
Bei einem Termin mit seiner Ärztin wollte er weinen, fing aber stattdessen
an zu lachen. Auch bei ihm war den Ärzt:innen zunächst nicht klar, um
welche Krankheit es sich handelte.
## Außer Kontrolle
Es ist ein [5][komisches Gefühl], die Kontrolle über sich selbst zu
verlieren. Immer wieder passiert es mir, dass ich mir einen Film ansehe,
der mich nicht einmal besonders berührt, und merke, wie ich zu weinen
beginne. Ich versuche dann, mich zu beruhigen; gelingt es mir nicht, gebe
ich die Kontrolle über mich selbst an die Krankheit ab. Manchmal lasse ich
es einfach passieren.
Oft ist mir das etwas peinlich. Vor allem, wenn ich sehe, wie unangenehm es
den Menschen um mich herum wird, wenn Lachen oder Weinen auf einmal aus mir
herausplatzt. Natürlich wissen Fremde nicht, dass ich nichts für diesen
vermeintlichen emotionalen Ausrutscher kann, aber die Reaktionen sind immer
gleich: Ich werde angestarrt und behandelt wie eine betrunkene,
überemotionale Frau. Die Menschen möchten Abstand von mir gewinnen und
bewegen sich weiter und weiter weg. Es ist ihnen peinlich, dass ich gerade
lache oder weine – als würde nicht ich gerade die Kontrolle über mich
selbst verlieren, sondern sie.
Deutschland ist eine kontrollierte Gesellschaft. Und wer die Kontrolle
verliert, der hat wohl etwas in der Sozialisation verpasst. Selbst Kinder,
die in einem Supermarkt nach ihren Eltern schreien oder weinen, weil sie
ihre Süßigkeiten nicht bekommen, werden schief angesehen. Und natürlich
auch die Eltern, die versäumt haben, ihren Kindern Manieren beizubringen.
## Unverständnis und Mitleid
Uns ist es wichtig, den Anschein zu wahren. Wenn ich, eine erwachsene Frau,
lauthals lache oder bitterlich weine, fühlen sich andere von so viel nach
außen getragener Emotion belästigt. Das bekomme ich immer wieder zu spüren.
Dazu muss man sagen: Natürlich gibt es unterschiedliche Reaktionen auf die
jeweiligen „Gefühlsausbrüche“. Das Lachen ist in Ordnung, es steckt an.
Sieht mich aber jemand weinen, ändert sich der Ausdruck. Er wird mitleidig.
Menschen möchten mich sofort trösten. Dass ich aber gar nicht traurig bin,
wissen sie nicht. Und wenn sie mich fragen, was los ist, und ich weinend
versuche zu erklären, dass nichts los ist, dass ich an einer Krankheit
leide, sind sie nur noch besorgter um mich.
## Was hilft
Mittlerweile ist mein pathologisches Lachen und Weinen für mich kein
Hindernis mehr im Alltag. Ich habe eigene Methoden entwickelt, um mit den
Anfällen umzugehen.
Ist etwas lustig und ich merke, dass ich anfangen werde zu lachen oder sich
Tränen ankündigen, kann ich das mittlerweile ganz gut unterdrücken.
Manchmal verlasse ich den Raum und lasse das Lachen einfach raus. Bin ich
bei Freunden oder meiner Familie, ist es einfacher damit umzugehen, da sie
von meiner Krankheit wissen. Bin ich allerdings in der Öffentlichkeit, ist
es schwieriger.
Letztes Jahr stand ich auf einer Bühne und las ein Gedicht vor. Mitten beim
Lesen bemerkte ich, dass mein Gesicht wärmer wurde und sich Tränen
ankündigten – ich sah ins Publikum, um mich daran zu erinnern, wo ich war,
und nahm einen Schluck Wasser. Letztendlich schaffte ich es weiterzulesen,
ohne von der Bühne zu gehen oder eine größere Pause einzulegen. Natürlich
hat das Publikum trotzdem den kleinen Frosch bemerkt, den ich im Hals
hatte, und mich nach der Veranstaltung wieder mit dem Mitleidsblick
angesehen. Wahrscheinlich dachten die Zuschauer, dass mich die
eindringlichen Worte mitgenommen hätten.
Mit meinem pathologischen Lachen und Weinen zeige ich anderen, dass wir
alle emotionale Wesen sind, dass Emotionen manchmal unkontrollierbar sind
und auch mal Gassi geführt werden müssen. Statt uns als kontrollierte
Gesellschaft zu rühmen, sollten wir offene Gefühlsausbüche wertschätzen und
Menschen nicht als „zu emotional“ abstempeln, nur weil sie offen zeigen,
wie es ihnen geht.
Auch wenn ich und meine Mutter nichts für unsere Ausbrüche können: Auch
viele gesunde Menschen haben Angst, ihre Gefühle offen zu zeigen. Ich
verstehe das. Ich erlebe die Unfähigkeit, mit einem lauten Lachen oder
offenem Weinen umzugehen jeden Tag.
Manchmal sind Dinge eben zum Lachen, manchmal sind sie zum Weinen. Wenn wir
über sie lachen und weinen, weinen und lachen, abwechselnd und laut – wäre
das wirklich so schlimm?
8 Aug 2022
## LINKS
[1] /Verloren-gegangene-Gefuehle/!5857801
[2] /Frauen-und-unerwuenschte-Gefuehle/!5834061
[3] https://www.spek-trum.de/lexikon/neurowissenschaft/pathologisches-lachen-un…
[4] https://gedankenwelt.de/paul-pugh-ein-fall-von-pathologischem-lachen/
[5] /Psychologe-ueber-Emotionen/!5808452
## AUTOREN
Hatice Acikgoez
## TAGS
Gefühle
Krankheit
Lesestück Recherche und Reportage
Marie Kondo
Neurologie
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