# taz.de -- Doku „Tics – Mit Tourette nach Lappland“: Frieden in Inari | |
> Endlich ein Film, der das Tourette-Syndrom ernst nimmt, anstatt sich | |
> lustig zu machen: die Doku „Tics – Mit Tourette nach Lappland“ von Thom… | |
> Oswald. | |
Bild: Fühlt sich wohl in der Natur: Daniel im Dokumentarfilm „Tics – mit T… | |
HAMBURG taz | Menschen, die unter dem [1][Tourette-Syndrom] leiden, haben | |
die Souveränität über ihre Körper verloren. Warum sie unkontrolliert Laute | |
ausstoßen oder zucken, hat die Forschung bislang noch nicht ansatzweise | |
herausgefunden. Wenn motorische und vokale Tics sie in ihrer Gewalt haben, | |
sind sie Fremde in der eigenen Haut. | |
Und weil sie sich dabei so anarchisch gebären, ist das Tourette-Syndrom | |
zur Lieblingskrankheit des Unterhaltungskinos geworden. [2][Davor war es | |
der Autismus] („Rain Man“, „Mozart und der Wal“), nun gibt es seit eini… | |
Jahren eine Reihe von Spielfilmen ([3][„Vincent will Meer“]; [4][„Ein Tic | |
Anders“], „Motherless Brooklyn“), in denen Protagonist*innen | |
unkontrolliert Obszönitäten und Beleidigungen ausstoßen, und dabei | |
natürlich immer komisch sind und den dramaturgischen Nagel auf den Kopf | |
treffen. | |
Mit den Realitäten dieser neuro-psychiatrischen Erkrankung hat das wenig zu | |
tun, aber von ständigen Zuckungen und unartikulierten Ausrufen lässt sich | |
nicht so schön erzählen. | |
Der Hamburger Filmemacher Thomas Oswald hat mit „Tics – Mit Tourette nach | |
Lappland“ nun endlich einen Film gedreht, in dem die Krankheit ernst | |
genommen wird und drei junge Menschen vorgestellt werden, die an ihr | |
leiden. | |
## Sich selbst und andere „Tourris“ nennen | |
Einer von ihnen, Daniel, stößt zwar tatsächlich ein paar Mal das Wort | |
„Nutte“ aus, aber meistens sind seine Äußerungen nonverbal: kleine Schrei… | |
Keuchen, Stöhnen, Ausrufe. Leo wiederum zuckt so heftig mit dem Körper und | |
dem Kopf, dass man spüren kann, wie ermüdend diese ständigen krampfartigen | |
Bewegungen für ihn sein müssen. | |
Und Marika, der man äußerlich kaum etwas anmerkt, weil sie gelernt hat, | |
ihre Tics zu beherrschen, wird innerlich von der Krankheit beherrscht, weil | |
sie unter dem ständigen Leidensdruck starke Aggressionen gegen sich selbst | |
und andere „Tourris“ entwickelt hat. | |
Die drei begeben sich auf die im Titel versprochene Reise nach Lappland, | |
weil der Lübecker Neurologe Alexander Münchau eine neue Verhaltenstherapie | |
entwickelt hat. Gemeinsam mit dem Psychiater Daniel Alvarez-Fischer fährt | |
er mit den Protagonist*innen ins tiefste Finnland, weil sie sich dort | |
viel ruhiger und entspannter ihrer Erkrankung stellen können: Außenreize | |
sind in einer Waldhütte bei Inari extrem reduziert. | |
Vorher besuchen die Reisegruppe und das Filmteam noch einige Fachleute, die | |
eigene Therapieansätze für das Tourette-Syndrom entwickelt haben. In Paris | |
werden zum Beispiel Löcher in die Schädeldecke gebohrt, durch die dann | |
Elektroden eingeführt werden, die das Gehirn „stimulieren“. Dagegen hat die | |
[5][Cannabis-Therapie], die eine Neurologin in Hannover vorstellt, einen | |
deutlich sanfteren Ansatz. | |
## Chaotisch wirkende Freejazz-Improvisationen | |
Wenn Daniel, Leo und Marika in diesen ersten Minuten des Films in den | |
Städten gezeigt werden, spielen dazu der Saxofonist Dan Freeman und der | |
Schlagzeuger Christian Straube chaotisch wirkende Freejazz-Improvisationen, | |
die zum Teil so präzise zu den Tics der drei synchronisiert sind, dass etwa | |
Leo einmal genau passend zu einem Trommelschlag zuckt. Während der | |
Fährfahrt nach Finnland sind dann aber noch beruhigende fließende Klänge zu | |
hören. Subtil ist das Sound-Design von Simone Weber nicht, aber | |
wirkungsvoll. | |
Und auch der Film selbst kommt in Lappland zur Ruhe. Thomas Oswald nimmt | |
sich hier Zeit für lange Sequenzen, in denen die Protagonist*innen von | |
sich und ihren Krankheitsgeschichten erzählen, vor allem aber darüber, wie | |
andere auf ihre Tics reagieren. Und wenn sie dann schildern, wie sie | |
angestarrt, beschimpft oder lächerlich gemacht werden, wird eindrucksvoll | |
deutlich, wie existenziell ihr Leben durch Tourette geprägt wird. | |
Schließlich treffen sie in der Wildnis von Lappland einen Schamanen, der in | |
seiner verrauchten Holzhütte eine rituelle Heilungssitzung mit ihnen | |
abhält, bei der sie neue samische Namen bekommen. Eine deutliche Besserung | |
ist dadurch nicht festzustellen, aber dasselbe gilt auch für Münchaus | |
Therapie. | |
Keiner der drei fährt kuriert nach Hause. Aber ein paar ruhige und | |
entspannte Momente haben sie in Lappland erleben können. Und Thomas Oswald | |
ist ein zugleich sachlicher und stimmungsvoll inszenierter Film gelungen, | |
der endlich angemessen über eine Erkrankung informiert, die alles andere | |
als komisch ist. | |
25 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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