# taz.de -- Leben mit dem Tourette-Syndrom: Der Fluch des Fluchens | |
> Er zuckt, schreit und verletzt sich selbst: Fabian lebt mit dem | |
> Tourette-Syndrom. Die Krankheit wird zur Hölle - vor allem, wenn andere | |
> nicht mit ihr umgehen können. | |
Bild: "Rauchen hilft am besten gegen die Tics", sagt Fabian Kletter. | |
Als Fabian Kletter* im Unterricht von seinem Stuhl aufstand, zum Fenster | |
ging und mit dem Kopf dagegen schlug, dachte in der Klasse keiner mehr an | |
Lateinvokabeln. Als er es wieder und wieder tat, wurde der anfängliche | |
Schock für seine Mitschüler im Gymnasium zur Unterhaltung. Sie fanden | |
schnell heraus, wie sie den damals 14-Jährigen vorführen können. Sie | |
zeigten Fabian sechs Finger, damit er laut "Sex!" sagte, egal, wie sehr er | |
sich dabei schämte. In Anwesenheit der fülligen Englischlehrerin flüsterten | |
sie ihm zu: "Fick die fette Sau" - er wiederholte es laut. Sie wussten, | |
dass er nicht anders konnte. | |
"Je mehr die mich provoziert haben, umso schlimmer musste ich damals | |
ticken", sagt der inzwischen 17-Jährige und bläst den Zigarettenrauch von | |
seinem Balkon in das Panorama der Fränkischen Schweiz. Fabian hat das | |
Tourette-Syndrom - Tics gehören zu seinem Alltag. Dutzende Male am Tag | |
spürt er diesen Druck, wie einen Niesreiz. Kurz vorher kündigen sie sich | |
an: Dinge, die er nicht tun will, gegen die er aber nichts tun kann: | |
Zuckungen, Grimassen, laute Rufe, Nachsprechen. Viele verbinden Tourette | |
vor allem mit Koprolalie, dem Äußern vulgärer Ausdrücke und dem | |
unkontrollierten Ausrufen von Schimpfwörtern. Wer "Ficken" ruft, fällt auf. | |
Koprolalie zeigen jedoch nur bis zu 30 Prozent der Tourette-Kranken. | |
Die Krankheit kann erschreckend intelligent sein - oft findet sie genau die | |
Stelle, an der es am meisten weh tut: Ein korpulenter Mann wird als "fettes | |
Schwein" beschimpft. "Ich muss oft Nigger rufen, wenn ich einen | |
Dunkelhäutigen sehe", sagt Fabian. Wenn die Manieren versagen, geht er in | |
die Offensive: Er erklärt demjenigen danach, dass er nicht kontrollieren | |
kann, was er sagt, dass er so etwas noch nicht einmal denken will. In | |
seinem Wohnort muss Fabian nichts mehr erklären, dort kennt ihn jeder. | |
"Manche denken, ich spinne. Andere denken, ich sei vom Teufel besessen, und | |
manche wissen, dass es eine Krankheit ist", sagt er. Über 50 Prozent der | |
Tourette-Patienten sind erblich vorbelastet. Auch Infektionen, zum Beispiel | |
mit Streptokokken, können der Auslöser sein. Bei Fabian ist die Ursache | |
noch nicht gefunden. Bei manchen Tourette-Kranken wird sie das nie. | |
Verächtlich blickt Fabian von seinem Balkon auf den Ort, in dem andere | |
Urlaub machen. "Wenn ich könnte, würde ich sofort wegziehen - hier sind | |
fast nur Spießer und Bauern", sagt er. Aber er kann nicht weg. Er hat | |
keinen Führerschein, der ihm den schnellen Weg aus dem 1.400-Seelen-Ort in | |
die nächst größere Stadt ermöglichen könnte. Und Fahrrad fahren ist zu | |
gefährlich. Wenn er aufgeregt ist, muss er seine Arme zwanghaft am Lenker | |
überkreuzen. Bei Fabian fing es im Alter von sechs Jahren mit | |
Trippelschritten an. Als 13-Jähriger blinzelte er, machte Grimassen und | |
begann, "Ah, ah", "He" und "Na, na" zu schreien. Warum, wusste damals noch | |
niemand. Bis Fabians Vater im Fernsehen einen Bericht über Tourette sah und | |
daraufhin mit seinem Sohn einen Experten aufsuchte. Seitdem haben seine | |
Tics einen Namen. | |
Fabian wippt auf einem ledernen Schreibtischstuhl hin und her und tippt | |
eine SMS. Die Gesichtsmuskeln zucken leicht. Im hellen Wandschrank stehen | |
"Harry Potter"-Bücher, an den Wänden hängen Poster von Albert Einstein und | |
einigen Hiphop-Stars. Der 17-Jährige greift nach einer Zigarette. "Rauchen | |
hilft am besten gegen die Tics", sagt er. Seit einem Jahr nimmt Fabian | |
keine Medikamente mehr. Durch sie waren die Tics zwar schwächer geworden, | |
dafür kamen die Zwänge. Fabian ist überzeugt, die Medikamente waren schuld | |
daran, dass er sich immer wieder die Backe aufbeißen musste. Dass er ein | |
Messer in seiner Hand plötzlich zum Auge bewegen musste, immer näher, und | |
erst einen halben Zentimeter vor seiner Pupille stoppen konnte. Dass er | |
Zigaretten auf dem Arm ausdrückte - zwei rote Narben sind ihm davon | |
geblieben. Geblieben sind auch die Löcher in der Rigipswand über seinem | |
Bett, die Zwänge haben ihn den Kopf dagegen schlagen lassen. "Da denkst du | |
dir währenddessen noch: Oh scheiße, das tut jetzt weh." Stoppen kann er | |
sich trotzdem nicht. | |
Als Fabian 14 Jahre alt war, wollte er nicht mehr in die Schule gehen. Die | |
Provokationen der Mitschüler in dem Gymnasium bei Bamberg wurden immer | |
schlimmer, Fabian wurde im Unterricht immer auffälliger - psychischer | |
Druck, Stress und Anspannung verstärken die Tics. Eltern von Mitschülern | |
beschwerten sich bei der Schulleitung: Ihre Kinder würden wegen Fabians | |
Tics schlechte Noten schreiben. Der Direktor reagierte: "Das | |
Unterrichtsgeschehen wird massiv beeinflusst, Schüler und Lehrer können | |
sich nicht im erforderlichen Umfang auf ihre Aufgaben konzentrieren", | |
teilte er Fabians Eltern in einem Brief mit. Die Eltern schlugen vor, | |
Fabian könne die Klassenarbeiten in einem separaten Raum schreiben, um die | |
anderen nicht zu stören. "Diese Maßnahmen sind von einer Regelschule nicht | |
zu leisten. Ihr Sohn ist krankheitsbedingt derzeit nicht schulfähig", | |
antwortete der Direktor. Fabians Vater, Werner Kletter*, begann zu | |
telefonieren. Er kontaktierte etwa 25 Stellen, beschwerte sich, suchte Rat. | |
Schließlich wandte er sich an das Kultusministerium. Der blaue Ordner mit | |
der Aufschrift "Tourette-Syndrom Fabi" füllte sich mit Briefen, Gutachten | |
und Protokollen. In einem Telefonat mit dem Kultusministerium hieß es | |
schließlich, Fabian könne selbstverständlich weiter auf das Gymnasium | |
gehen. Der Direktor sei dazu vom Ministerium verdonnert worden, glaubt | |
Kletter. "Auf dieser Basis war kein Vertrauen mehr vorhanden. Fabian wäre | |
einem täglichen Spießrutenlauf ausgesetzt gewesen." Die Familie beschloss, | |
eine neue Schule zu suchen. | |
Fabian verlor in dieser Zeit auch viele seiner Hobbys. "Du bist doch | |
behindert", riefen damals Fabians Mitspieler im Fußballverein - er hörte | |
auf, zu spielen. Mit 14 Jahren war er auch das letzte Mal im Kino: "Star | |
Wars: Episode 3". Er hat den Film nicht zu Ende gesehen - es war zu | |
aufregend. Fabian musste Sätze nachsprechen, und als sich Leute umdrehten | |
und beschwerten, verließ er den Saal. Zum ersten Mal dachte Fabian an | |
Selbstmord. Ein kirchlicher Jugendtreff war der einzige Ort, an dem er | |
nicht gehänselt wurde. Der christliche Jesus-Rock war zwar nicht sein Fall, | |
trotzdem war er ein halbes Jahr lang regelmäßig dort. "Die hatten da immer | |
Gebetskreise, wo sie alle heilen wollten. Sie haben mir die Hand aufgelegt | |
und für mich gebetet. Das war so eine Mischung aus Segnen und Exorzismus." | |
Irgendwann ging er nicht mehr hin. | |
Als Fabian das nächste Mal eine Schule betrat, war alles anders. An seinem | |
ersten Schultag, an einer Realschule in Bamberg, machte der Rektor eine | |
Durchsage, in der er das Tourette-Syndrom erklärte und mit Konsequenzen | |
drohte, sollte jemand den neuen Mitschüler hänseln. Das war Fabian ein | |
bisschen peinlich, aber es hat geholfen. Jetzt schreibt der 17-Jährige | |
Klassenarbeiten in einem separaten Raum und darf einen Laptop benutzen - | |
eine große Hilfe für jemanden, der durch die Tics das Geschriebene immer | |
wieder durchstreichen oder das Papier zerknüllen muss. Das Klassenzimmer | |
darf er verlassen, wenn er ticken muss. Die Schule ist für ihn keine Qual | |
mehr, der Druck hat nachgelassen - und damit seine Tics. Gleichzeitig half | |
Fabian die Zeit: Meist verstärken sich die Symptome nur bis zum Alter von | |
16 Jahren - bei mehr als 70 Prozent der Patienten werden die Tics danach | |
schwächer oder verschwinden ganz. | |
"Er begeht gerade Mutter- und Vatermord", sagt Werner Kletter. Dass sich | |
Fabian während der Pubertät von seinen Eltern entfremdet, freut ihn. "Vor | |
zwei Jahren haben wir ihn schon im ausgebauten Keller wohnen sehen, während | |
meine Frau und ich oben alt und grau werden." Während damals nicht daran zu | |
denken war, dass Fabian eine berufliche Zukunft haben und jemals alleine | |
leben könnte, sinniert der Vater jetzt über Berufsaussichten. Er sitzt in | |
Anzug und Krawatte auf Fabians Bett. "Was Motorisches kann er zwar nicht | |
machen", fängt er an. Fabian lümmelt auf seinem Schreibtischstuhl und wirft | |
seinem Vater eine Zigarettenhülse zu. "Stopf die mal! Mache ich den ganzen | |
Tag - ist das nichts Motorisches?" Er wäre ein guter Sozialpädagoge, denkt | |
der 17-Jährige. "Ich helfe drei Mädchen im Internet." Fast jeden Tag | |
chattet er mit ihnen, sie erzählen ihm Sorgen, über die sie mit anderen | |
nicht sprechen. "Weil ich selbst genügend Probleme hab, kann ich das besser | |
nachvollziehen." Aus seinem Handicap wird Strategie: "Die meisten Mädchen | |
wollen keinen mit so einer Krankheit. Aber wenn du ihnen zuhörst, sagen | |
sie, dass Tourette ihnen scheißegal ist." | |
Von nebenan dröhnen Rammstein. "Oh Mann, mein kleiner Bruder. Auf Rammstein | |
werde ich tickig", sagt Fabian und verdreht die Augen. Er mag Pink Floyd, | |
spielt ihre Stücke auf seinem Schlagzeug. Darin ist er gut. "Ich habe ein | |
besseres Reaktionsvermögen als viele andere." Dank Tourette. | |
* Namen geändert | |
BIRGIT FRANK & KATHRIN SCHMID | |
25 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
B. Frank | |
K. Schmid | |
## TAGS | |
Neurologie | |
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