# taz.de -- Musiktheater: Bis zur absoluten Disharmonie | |
> Drei Laienschauspieler mit Tourette-Syndrom machen zusammen mit Profis | |
> ohne Tourette-Syndrom auf Kampnagel in Hamburg Musiktheater. Die Idee | |
> ist, dass die unkoordinierten Bewegungen und Schreie der Touretter Teil | |
> der Gesamtkomposition werden. Darf man das machen: Menschen mit Tic auf | |
> der Bühne zur Schau zu stellen? | |
Bild: Klanglaute, Wortfetzen: die Schauspieler Nadine Nollau und Christian Koop… | |
Setzten Sie sich mal in eine U-Bahn und beobachten Sie die Leute ganz | |
genau. Zerkaute Fingernägel, wackelnde Beine, nervöses Kratzen - Sie werden | |
feststellen: Fast jeder der Beobachteten hat irgendeinen Tic. Der Neurologe | |
Oliver Sacks fand bei einem Feldversuch im New York der sechziger Jahre | |
heraus, dass im Stadtbild einer modernen Großstadt Menschen mit Tics in der | |
Überzahl sind. Die Norm ist die Ausnahme, so die These des Neurologen. | |
Auf Grundlage dieser Beobachtungen plante die Musiktheatergruppe Opera | |
Silens ihr neues Stück Neurovisions. "Vor allem die Popmusik", sagt | |
Regisseur Hans-Jörg Kapp "verstehen wir als kontrolliertes Ausleben | |
unterdrückter Tics." Man denke etwa an Elvis Presley, James Brown oder Iggy | |
Pop. "Immer geht es um einen Überschuss, der an die Luft gesetzt werden | |
muss." | |
"Trois, deux, un, zéro!", und Nadine Nollau springt ans Mikro. "Boum | |
badaboum boum boum", stimmt die Schauspielerin schwungvoll an. Der | |
eingängige Refrain des Eurovision-Hits von Minouche Barelli eignet sich | |
grade zu perfekt, um das Schwelgen in Tics der Popmusik zu | |
veranschaulichen. Doch im Laufe des Liedes verliert sich der Refrain im | |
Abstrakten - "Bada dada boum! Boum! Boum!" - bis schließlich eine absolute | |
Disharmonie entsteht. Alles zerfällt in Wortfetzen, Klanglaute, abgehakte | |
Bewegungen. | |
"Wir geben die Tics nicht einfach nur wieder", erklärt Dramaturgin Judith | |
Schneiberg, "wir übertreiben sie auch bis ins Unermessliche." | |
Doch im Unermesslichen, isoliert von jeglicher Melodie, entwickeln die | |
Liedbausteine eine gewisse Eigendynamik, fügen sich mit eingespielten | |
Samples ineinander und finden schließlich den Weg in die Harmonie zurück. | |
Wegbereiter dabei sind nicht selten Malte Palinsky, Duran Petermann und | |
Daniel Weber. | |
Die drei Laiendarsteller leiden unter dem Tourette-Syndrom. Sie kauen nicht | |
an den Fingernägeln oder wackeln mit den Beinen, sondern rutschen auf ihren | |
Stühlen hin und her, springen plötzlich auf und schreien alle paar Sekunden | |
laut auf. Sie können diese Tics nicht abstellen oder unterdrücken. Trotzdem | |
vermögen sie es, ihre Tics an der richtigen Stelle im Stück harmoniebildend | |
oder harmoniebrechend in die Gesamtkomposition einzufügen. | |
Die Touretter verleihen dem Stück einen gewissen akustischen und | |
motorischen Rahmen. Aber kann man das machen: die Touretter mit ihrer | |
Krankheit auf der Bühne zur Schau stellen? Die Touretter stehen nie | |
wirklich im Mittelpunkt des Geschehens. Sie wirken eher wie ein | |
Begleitorchester. Weder wird ihre Krankheit erklärt noch auf ihre Probleme | |
eingegangen, viel eher wird ihre Krankheit als Sinnbild für grenzenloses | |
Abrocken benutzt. | |
Auch die Tatsache, dass die Touretter nicht alleine auf der Bühne stehen, | |
sondern in Begleitung von Professor Dr. Alexander Münchau, Tourette-Experte | |
des Universitäts-Klinikums Eppendorf, entschärft die Situation nicht. Im | |
Gegenteil: Seine Rolle gibt der Skepsis, die man gegen das Projekt hegen | |
könnte, noch Futter. Denn er fungiert auf der Bühne zwar als Bezugsperson | |
der Touretter, lässt sie sich dort sicher fühlen, doch für den Zuschauer | |
wirkt es, als sei er ihr Aufpasser, als stehe er dort, um jeden Moment | |
eingreifen zu können. | |
"Natürlich", sagt Münchau, "hatte auch ich anfangs meine Bedenken." Aber | |
das Hauptproblem vieler Touretter sei von je her die öffentliche Reaktion | |
auf ihre Krankheit. "Im Kontext des Theaters bekommen Palinsky, Petermann | |
und Weber hingegen die Möglichkeit ihre Tics mit voller Akzeptanz der | |
Öffentlichkeit auszuleben." Das sei unheimlich wichtig für sie. Sie gehen | |
mit dem Publikum und dem Ensemble eine synergetische Beziehung ein. | |
"Das muss auf jeden Fall erlaubt sein", findet auch Dramaturgin Schneiberg. | |
"Wir führen die Touretter nicht vor. Wir stehen im Dialog mit ihnen." Wie | |
wörtlich das zu verstehen ist, verdeutlicht eine der Schlüsselszenen des | |
Stücks. Hier steht der Touretter Duran Petermann der Sängerin Frauke | |
Aulbert gegenüber. Petermann gibt sich ganz seinen Tics hin: bellt, | |
kreischt, winkt und zuckt. Aulbert nimmt diese Geräusche und Bewegungen auf | |
und gibt sie wieder. Es wirkt jedoch nicht so als würde sie ihn nachäffen, | |
sondern viel eher als würden sie mit ihm kommunizieren. Im Laufe des | |
Dialogs entwickelt sich eine gewisse Melodie zwischen den beiden und die | |
Konservation wird zum Duett. | |
Opera Silens: "Neurovisons -eine gesamteuropäische Touretterie"; | |
Uraufführung: 20. 01., 21:00 Uhr,auf Kampnagel in Hamburg; weitere Termine: | |
22. 1. bis 24. 1. und 28. 1.bis 30. 1. jeweils 19:30 Uhr | |
18 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Johann Tischewski | |
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Neurologie | |
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