# taz.de -- Verloren gegangene Gefühle: Sie kommen wieder | |
> Ständig lernen wir Neues und vergessen dafür Altbekanntes. Doch manchmal | |
> kehren auch längst verdrängte Gefühle und Fähigkeiten zurück. | |
Bild: Kreidezeichnung auf einer Berliner Straße: Oft verlernen wir Dinge, die … | |
Letztes Mal habe ich mich gefragt, [1][was mit verschleppten Gefühlen | |
passiert,] und heute kann ich es beantworten. Also ich versuche es | |
jedenfalls. Ich habe mich in den letzten Wochen gezwungen, Dinge zu tun, | |
die ich mir sonst nicht zutraue oder die mich müde machen: Ich bin viel | |
rausgegangen, ich war stundenlang im Wald spazieren und war auf | |
Veranstaltungen, an denen viele Menschen anzutreffen sind. Stets | |
vorsichtig, [2][es ist ja immer noch Pandemie], aber immerhin rausgegangen. | |
Am Abend nach solchen Tagen war ich müde und habe mich gefragt, wovon ich | |
eigentlich müde bin. Früher ging es doch auch. Und irgendwann hat es klick | |
gemacht. Wenn ich jetzt glücklich sein will, muss ich aufhören, mich mit | |
früher zu vergleichen. | |
Als ich noch sehr klein war, ungefähr vier Jahre alt, habe ich immer | |
stundenlang in einer bestimmten Position gesessen. Auf dem Boden, Knie | |
aneinander und Beine seitwärts abstehend. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt | |
gut beschrieben habe oder nicht. Jedenfalls saß ich als Kind stundenlang so | |
da und habe gemalt, mit mir selbst gesprochen und der Tag verging. | |
Ich kann nicht mehr so sitzen. Egal, wie sehr ich mich vorher dehne, ich | |
kann es einfach nicht. Weil ich nicht mehr so dehnbar bin wie mit vier | |
Jahren. Dafür kann ich andere Dinge: Ich kann kochen (beziehungsweise die | |
Rezepte googeln und den Ofen für ’ne Tiefkühlpizza bedienen), ich kann Auto | |
fahren, gute Ratschläge geben, spreche vier Sprachen und kann mich selbst | |
verteidigen, wenn mir jemand zu nah kommt. Das konnte ich mit vier Jahren | |
nicht. | |
Der Punkt, den ich hier machen will: Man sollte sich nicht mit früher | |
vergleichen, wenn man heute glücklich sein möchte. Fähigkeiten kommen und | |
gehen, manche bleiben für immer, aber es kommen vor allem immer neue dazu. | |
Mit dem letzten Punkt habe ich mich immer schwergetan. Ich habe oft | |
gedacht: Was ist, wenn ich nichts mehr lernen kann? Wenn ich alles gelernt | |
habe und nicht mehr die Fähigkeit und Geduld für Neues habe? Dann macht das | |
Leben doch keinen Sinn mehr, oder? Oder was ist, wenn ich alles gefühlt | |
habe, was es im Leben zu fühlen gibt, und nichts mehr dazukommt? | |
## Endlich wieder etwas fühlen | |
Diese Frage kann ich nicht beantworten, aber ich hatte neulich Besuch von | |
alten, längst verloren geglaubten Gefühlen: Hoffnung, Aufregung und | |
aufrichtige, pure Freude. Als meine beste Freundin geheiratet hat und ich | |
sah, wie Liebe sie umgibt und ihr folgt, überall, wo sie hingeht. Als mein | |
Neffe gelacht hat, als ich ihm ein ausgedachtes Lied vorsang. Als ich auf | |
dem Sofa eines Freundes saß und so aus dem Bauch gelacht habe wie schon | |
lange nicht mehr. Als mein Partner und ich im Auto saßen nach einer | |
Verabredung und noch lange Musik hörten und laut mitsangen. Als ich eine | |
schwere Aufgabe gemeistert habe, vor der ich wochenlang gezittert habe. | |
Verschleppte Gefühle kommen also wieder, manche sind schön, andere weniger. | |
Aber sie kommen wieder und es ist gut, wieder etwas zu fühlen. | |
13 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anna Dushime | |
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