# taz.de -- Autorin über Kriegs-Retraumatisierung: „Eine emotionale Erschüt… | |
> Plötzlich kommt Verdrängtes aus Weltkriegszeiten wieder zum Vorschein: | |
> Hilke Lorenz erkundet Effekte des Ukraine-Kriegs. | |
Bild: Rufen Traumata wach: Bilder des Ukraine-Kriegs | |
taz: Frau Lorenz, wie tief sitzen Ihrer Erfahrung nach Kriegstraumata bei | |
Kindern? | |
Hilke Lorenz: Die Gespräche, die ich mit Menschen geführt habe, die den | |
Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebten, haben gezeigt, dass diese | |
Erfahrungen in ihnen weiter leben. Das Existenziellste, was Kinder erleben | |
können, ist zu sehen, das diejenigen, die für ihre Sicherheit zuständig | |
sind – der Vater, die Mutter – so zitternd im Bunker sitzen wie die Kinder. | |
Es gibt Berichte davon, dass die Mutter auf dem Schoß der Tochter saß. Das | |
ist eine Umkehr der Ordnung, wer wen zu schützen hat. Dieses | |
Ausgeliefertsein ist eine große emotionale Erschütterung. Hinzu kommen die | |
von außen herangetragenen Dinge. | |
Welche sind das? | |
Gewalterfahrungen, die Angst vor dem Tod, davor, Menschen zu verlieren, das | |
Haus, in dem man wohnt, Vertrautheit – Letzteres besonders bei Kindern aus | |
Flüchtlingsfamilien. Wobei mich in den Gesprächen immer gewundert hat, wie | |
wenig in den Familien über diese Gefühle gesprochen wurde. | |
Wie erklären Sie sich das? | |
Nach Ende des Krieges ging es zunächst darum, in die Zukunft zu schauen, | |
sich ein Leben aufzubauen. Gefühlsbeiwerk war da nur im Weg, deshalb haben | |
sich viele Betroffene den Blick zurück selbst verboten. Verdrängung – ein | |
für uns so negativ besetztes Wort – war für viele ein Überlebenskonzept. Es | |
hat sich über Jahrzehnte bewährt und ihnen geholfen; aber nur | |
mittelfristig. | |
Das heißt? | |
Viele Menschen, mit denen ich sprach, haben erzählt, wie diese Erfahrungen | |
in ihnen weitergewirkt haben. Während der aktiven Lebensphase – | |
Familiengründung, Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz – blieb das | |
verborgen. Aber wenn die Kinder aus dem Haus waren, wenn man in Ruhestand | |
ging, hatte man plötzlich Zeit, und die wurde mit Gedanken gefüllt, die bis | |
dahin nicht so zutage traten. Manchmal führte das auch zu den bekannten | |
körperlichen Symptomen wie Schlaflosigkeit oder dem Nicht-Ertragen von | |
Sirenengeheul oder Silvesterfeuerwerk. | |
Sie sprechen am Mittwochabend mit dem Leiter der Trauma-Ambulanz am | |
Uni-Klinikum Hamburg-Eppendorf, das Thema ist die Wiederkehr von Traumata. | |
Können die Bilder, die uns heute aus dem Ukraine-Krieg erreichen, wirklich | |
zu einer Re-Traumatisierung führen? | |
Das sollen Psychiatrie-Experten beantworten. Ich höre aber aus vielen | |
Altenheimen, dass bei Hochbetagten alte Erinnerungen wieder hochkommen und | |
der Zweite Weltkrieg eben noch kein abgeschlossenes Kapitel ist. Ich bin | |
selbst Kind von Vertriebenen, und meine Eltern haben mich keineswegs | |
ständig mit dem Thema konfrontiert. Aber durch die Ukraine-Bilder der | |
Gegenwart hat die Schwarzweiß-Geschichte meiner Eltern Farbe bekommen. | |
Bedeutet die Betroffenheit der älteren Menschen, dass deren Traumata nicht | |
verarbeitet sind? | |
Ich weiß es nicht, vielleicht ist es einfach Empathie, wie bei hoffentlich | |
uns allen. Meine eigenen Eltern leben nicht mehr. Aber wenn ich mir ihre | |
letzte Lebensphase vorstelle, hätte ich sie vor diesen Bildern schützen | |
wollen. Denn in einer Phase von Immobilität und extremer Hilfsbedürftigkeit | |
wieder mit Kriegsbildern konfrontiert zu sein und zu wissen, ich könnte | |
mich jetzt nicht selbst in Sicherheit bringen – da wird dieses | |
Ohnmachtsgefühl aus der Kindheit wieder sehr gegenwärtig. | |
1 Jun 2022 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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