# taz.de -- Hilfsbereitschaft für Geflüchtete: „Empathie ist fragil“ | |
> Man kann emotionale Resonanz im Gehirn messen, sagt die | |
> Neurowissenschaftlerin Tania Singer. Ein Gespräch über die Chancen und | |
> Grenzen von Empathie. | |
Bild: „Sobald die berührenden Bilder aus der Presse verschwinden, lässt auc… | |
taz am wochenende: Frau Singer, für [1][ukrainische Flüchtlinge] gibt es | |
gerade sehr viel Empathie. Viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich. | |
Überrascht Sie die Hilfsbereitschaft? | |
Tania Singer: Nein, wir haben das ja schon 2015 erlebt, als viele Syrer | |
nach Deutschland kamen. Der Krieg ist so nah, vor unserer Haustür, es | |
trifft unseren Nachbarn. Das lässt die Empathie und die Hilfsbereitschaft | |
noch mal stark steigen. | |
Sie forschen im Bereich der sozialen Neurowissenschaften und grenzen | |
Empathie von Mitgefühl ab. Was ist der Unterschied? | |
Empathie bedeutet, dass man mit dem anderen mitschwingt, sich einfühlt. Sie | |
ist die Fähigkeit der emotionalen Resonanz. Wir sehen Bilder von den | |
Flüchtlingen, von ihrem Leid, und uns kommen die Tränen. Das ist eine | |
empathische Reaktion. Empathie muss sich nicht auf ein negatives Gefühl | |
beziehen, man kann auch mit der Freude des anderen mitschwingen. Mitgefühl | |
dagegen bezieht sich immer auf Leid, es ist aber eine ganz andere Reaktion. | |
Mitgefühl entspringt einem evolutionär sehr alten [2][Care-System] in uns, | |
es hat mit Fürsorge, Wärme und Liebe zu tun. Man leidet nicht mit, man hat | |
eine starke Motivation zu helfen und verspürt oft positive Emotionen. | |
Sie haben in Untersuchungen festgestellt, dass dabei jeweils | |
unterschiedliche Hirnregionen aktiv sind. | |
Wenn ich Menschen leiden sehe und Empathie empfinde, dann werden Netzwerke | |
im Gehirn aktiviert, die auch aktiv sind, wenn ich selbst leide. Das sind | |
Netzwerke, die mit dem Alarmsystem zu tun haben, mit negativen Emotionen | |
und Schmerz. | |
Beim Mitgefühl ist das anders? | |
Ja, da werden dieselben Netzwerke aktiv wie beim Anblick einer geliebten | |
Person, etwa des eigenen Kindes. Dieses System ist ein sehr altruistisches | |
System. | |
Die Helfer:innen hören die Geschichten der Geflüchteten, sie sehen ihr | |
Leid. Das kann auch überfordern. | |
Empathie ist erst mal eine gesunde Reaktion. Ich merke, dass jemand leidet. | |
Aber wenn ich zu sehr mitleide, wenn die Trennung zwischen mir und dem | |
anderen verschwimmt und das Leid des anderen sich anfühlt wie meines, kann | |
das auch zu empathischem Stress führen. Menschen, die vielleicht | |
traumatisiert waren und plötzlich mit dem Trauma anderer konfrontiert | |
werden, sind dafür besonders anfällig. Man muss nicht mal selbst etwas | |
Schlimmes erlebt haben, Traumata werden auch über die Generationen | |
weitergegeben, etwa die Erfahrungen unserer Großeltern im Zweiten | |
Weltkrieg. Wenn einen Spuren dieser Erinnerung überfluten, kann man sich | |
eigentlich nur noch zurückziehen und sich erst mal um sich selbst kümmern. | |
Dies nennen wir das Selbstmitgefühl. | |
Was können Helfer:innen tun, um sich gegen Überforderung zu wappnen? | |
Das ist nicht so einfach. Helfende Berufe werden ja richtig gelernt, das | |
ist eine Kunst. Man geht als Therapeut über Jahrzehnte in Selbstausbildung | |
und Supervision, um das Leiden der anderen jeden Tag aushalten zu können. | |
Im Moment helfen viele Menschen ehrenamtlich. Was weiß man aus der | |
Empathieforschung, ist so ein Engagement von Dauer? | |
Erst mal helfen sich Menschen nach einer Katastrophe, ein Verhalten, was | |
auch als [3][Tend-and-befriend-Hypothese] in der Stressliteratur bekannt | |
ist. Man tut sich zusammen, um mit Bedrohungen besser umzugehen. Das ist | |
aber nur ein erster Reflex. Wenn man aus empathischem Stress oder aus | |
Empathie heraus hilft, dann ist das natürlich auch hilfreich, aber meist | |
nicht sehr nachhaltig. Sobald die berührenden Bilder aus der Presse | |
verschwinden, lässt auch die Hilfsbereitschaft nach. Mitgefühl dagegen ist | |
keine flüchtige Emotion, sondern eine soziale Motivation, sie kann sogar zu | |
einer dauerhaften Lebenseinstellung werden. Wer Mitgefühl empfindet, | |
kümmert sich auch noch nach Monaten um Hilfsbedürftige. Nachhaltiges | |
Mitgefühl muss aber häufig erst kultiviert werden über längere Zeit. | |
Wenn ich gerade mit den Ukrainer:innen mitfühle, bleibt wenig Raum für | |
die [4][Opfer anderer Katastrophen]. Ist Empathie endlich? | |
Auch das hat mit empathischem Stress zu tun. Wenn man zu viel Leid spürt, | |
macht man irgendwann dicht. Bei Liebe und Fürsorge ist das anders, da gibt | |
es keine Grenze. Zu viel empathischer Stress kann auf lange Sicht zum | |
Burn-out führen, Mitgefühl nicht. | |
Es ist auffällig, dass die Hilfsbereitschaft mit den Ukrainer:innen etwa | |
in Osteuropa sehr viel größer ist als für irakische oder syrische | |
Flüchtlinge, [5][die an der belarussischen Grenze festsitzen]. | |
Empathie hängt mitunter auch davon ab, ob man glaubt, dass jemand zur | |
eigenen Gruppe gehört oder ihr nahe steht. Für Familienangehörige oder | |
Freunde empfindet man leicht Empathie, auch für Menschen mit einer | |
ähnlichen sozialen Identität, der sogenannten Ingroup. Wir haben dieses | |
Ingroup-Outgroup-Verhalten bei einem Empathie-Experiment in der Schweiz | |
untersucht, mit Fans des FC Zürich. Schauspielern wurden dabei Schmerzreize | |
an den Händen zugefügt. Dachten die Untersuchten, es handle sich um einen | |
Fan ihres Vereins, zeigte der Scan in ihrem Hirn eine Aktivierung des | |
Netzwerks für Empathie. Dachten sie, ein Fan des Rivalenvereins Basel sei | |
betroffen, gab es diese Reaktion nicht, stattdessen war Aktivität in | |
Belohnungsarealen zu sehen, also Schadenfreude. Empathie ist fragil, sie | |
kann sehr schnell kippen. | |
Eine Ukrainerin [6][berichtete in der taz] von einem Telefonat mit ihrem | |
Vater in Kiew. Auf den Straßen dort hätten verbrannte russische Leichen | |
gelegen. Sie schrieb: „Es war schockierend festzustellen, dass uns diese | |
Tatsache glücklich machte.“ Was ist hier mit der Empathie passiert? | |
In einem Krieg sind Feind und Freund, also die In- und die Outgroup, ganz | |
klar definiert. Wenn schon bei Fußballfans Schadenfreude gemessen wird, | |
kann man sich vorstellen, dass bei dieser Ukrainerin das Gefühl der | |
Genugtuung noch zehnmal stärker ist. | |
Sie sagen, man könne Mitgefühl lernen und sollte es gar zum Schulfach | |
machen. | |
Man kann die Kreise des Mitgefühls weiten und versuchen, die Unterscheidung | |
zwischen Gruppen aufzulösen. Dafür gibt es mentale Trainingsprogramme. Das | |
Mitgefühl ist dann nicht nur für die Ukrainer und die Opfer gedacht, | |
sondern auch für die Russen, die demonstrieren gehen und eingesperrt | |
werden. Und vielleicht sogar für die Russen, die falsch informiert werden | |
und gar nicht wissen, dass man sie anlügt. Die großen Meister des | |
Mitgefühls im Buddhismus üben jeden Tag, selbst für Diktatoren wie Putin | |
Mitgefühl zu empfinden. | |
Wozu sollte man das trainieren? | |
Das bedeutet ja nicht, dass man damit Putins Handlungen rechtfertigt, aber | |
man kann versuchen, sich einzufühlen und so die tieferen Ursachen für seine | |
Handlung besser zu verstehen und damit auch den breiteren systemischen | |
Zusammenhang des Krieges. | |
Haben Sie ein Beispiel für eine Übung des Mitgefühls? | |
Bei einer relativ einfachen Übung, den sogenannten Dyaden, telefonieren | |
zwei Menschen für zwölf Minuten miteinander. Erst reflektiert eine Person | |
über eine Frage, die ihr vom Gegenüber gestellt wird, zum Beispiel: Was war | |
schwierig? Es folgt eine zweite Frage, die das Care-System stärkt, etwa: | |
Wofür warst du heute dankbar und wie hat sich das angefühlt? Dann gibt es | |
einen Rollenwechsel. Man unterbricht sich nicht, sondern hört einfach zu. | |
Das übt man jeden Tag über Wochen. Diese Übung ist besonders effektiv, um | |
das empathische Zuhören zu fördern, die Akzeptanz schwieriger Emotionen, | |
aber auch Dankbarkeit und Mitgefühl zu stärken. Man fühlt sich selbst | |
gehört, gesehen, aufgehoben. | |
In Ihren Experimenten haben Sie nachgewiesen, dass mentales Training | |
tatsächlich die Hirnstruktur verändert. | |
Das können wir nicht für diese einzelne Partnerübung nachweisen. Sie war | |
Teil eines groß angelegten Forschungsprojekts, dem [7][ReSource Projekt]. | |
Dabei haben wir über viele Jahre zu den Effekten von mentaler Schulung | |
geforscht. Die Teilnehmer haben sehr viele unterschiedliche Übungen | |
gemacht. Nach drei Monaten sozio-emotionalem Training konnten wir im Gehirn | |
eine Verdickung der grauen Substanz auch in neuronalen Netzwerken sehen, | |
die bei Mitgefühl aktiviert werden. | |
Das bedeutet ja, dass wir mit etwas mentalem Training unser Gehirn | |
verändern und zu besseren Menschen werden könnten. | |
Ja. Wobei man dazu sagen muss: Wir haben dieses System des Mitgefühls, | |
diese Liebesfähigkeit ja in uns. Wir kultivieren damit nur etwas bereits im | |
Menschen Angelegtes. Nun kann man verschiedene Motive und Fähigkeiten | |
fördern. Man kann sich auf Macht ausrichten oder auf Wettbewerb. Oder auf | |
Angst. In den Medien wird mit schlechten Nachrichten ja ständig das | |
Alarmsystem angesprochen. Wenn das Angstsystem dauerhaft überaktiviert | |
wird, kann das irgendwann zu chronischem Stress und Krankheit führen. | |
Besser wäre es, sich in Mitgefühl zu üben? | |
Das wäre gesünder und sicherlich auch hilfreich für den sozialen | |
Zusammenhalt. Ziel wäre es, dass man Fürsorge entwickelt für jeden | |
Menschen, der leidet, und nicht nur die aus der eigenen Gruppe. Es ist wie | |
mit dem Körper: Wenn wir jeden Tag unsere Muskeln bewegen, werden sie | |
stärker. Das gilt auch für unsere geistigen Fähigkeiten. | |
2 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Ukraine-Fluechtlinge-in-Berlin/!5841361 | |
[2] /Schwerpunkt-Feministischer-Kampftag/!t5017565 | |
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Tend_and_befriend | |
[4] /Nach-illegalen-Pushbacks/!5842608 | |
[5] /An-der-Grenze-Polens-zu-Belarus/!5829402 | |
[6] /Tagebuch-aus-der-Ukraine-und-dem-Exil/!5838852 | |
[7] https://www.resource-project.org/ | |
## AUTOREN | |
Antje Lang-Lendorff | |
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