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# taz.de -- Vorwurf russischer Kriegsverbrechen: „Ohne Grund erschossen“
> Russlands Armee gibt die Belagerung von Kiew auf – und hinterlässt Bilder
> des Grauens: verwüstete Städte voller Leichen.
Bild: Samstag, 2. April: Hunderte Zivilisten wurden in Butscha getötet
Berlin taz | Die Leichen liegen in der Kanalisation, auf der Straße, vor
den Häusern, unter Trümmern, im Sand. Manchen sind die Hände hinter dem
Rücken gefesselt, manche sind halbnackt, manchen fehlen Körperteile. Seit
sich Russlands Invasionsarmee Ende vergangener Woche aus dem Umland der
ukrainischen Hauptstadt Kiew zurückgezogen hat, wird allmählich in
Frontstädten wie Butscha der Horror sichtbar, den die russische Besatzung
hinterlassen hat. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock fasst das
weltweite Entsetzen am Sonntagmittag zusammen: „Die Bilder aus Butscha sind
unerträglich. Putins hemmungslose Gewalt löscht unschuldige Familien aus
und kennt keine Grenzen.“
In Butscha fuhren Journalisten am Wochenende durch regennasse, verwüstete
Straßen, übersät mit Toten. Reporter der Nachrichtenagentur AFP sahen am
Samstag auf einer einzigen Straße in Butscha mindestens 20 Leichen liegen.
Mehrere waren gefesselt, alle trugen zivile Kleidung. „Alle diese Menschen
wurden erschossen“, Kopfschüsse, sagte Bürgermeister Anatoly Fedoruk. Es
stünden Autos auf den Straßen, in denen „ganze Familien getötet wurden:
Kinder, Frauen, Großmütter, Männer“.
Ein BBC-Reporter bestätigte die Angaben. Nach Angaben des Bürgermeisters
mussten 280 Menschen in Butscha in Massengräbern beigesetzt werden, da die
drei städtischen Friedhöfe in Reichweite des russischen Militärs lagen.
Serhii Kaplychnyi, Chef der Rettungsdienste der Stadt, zeigte AFP ein
Massengrab hinter einer Kirche, wo seinen Angaben zufolge 57 Tote lagen.
Reporter der Nachrichtenagentur AP in Butscha zählten mindestens sechs tote
Zivilisten entlang einer Straße und in einem Vorgarten: Opfer russischer
Soldaten, sagten Überlebende. „Diese Leute sind einfach gelaufen und sie
haben sie ohne jeden Grund erschossen“, sagte ein Anwohner. Eine Reporterin
der britischen Sunday Times fand eine 80-Jährige aus Butscha, die sich in
den Wald am Ortsrand geflüchtet hatte. Russische Soldaten hätten ihr in
ihrem Haus zu essen gebracht, erzählte sie. Als sie abzogen, schaute sie
nach den Nachbarn – die waren alle tot, an Händen und Füßen gefesselt. Die
Territorialverteidigung fand später in der gleichen Straße einen Keller mit
18 verstümmelten Leichen, darunter ein 14-jähriges Kind.
## Teil des Kriegsplans?
Wer die Toten von Butscha sind, wann und unter welchen Umständen sie zu
Tode kamen – all dies ist momentan nicht bekannt und muss unabhängig
untersucht werden, wie zahlreiche Politiker am Sonntag forderten. Manche
der Leichen auf den Straßen sind nach ukrainischen Angaben möglicherweise
zu Sprengfallen umfunktioniert worden. Ukrainischen Berichten zufolge
wurden in Butscha alle Männer im Alter zwischen 16 und 60 – diejenigen, die
für einen Einsatz in Armee oder Territorialverteidigung in Frage kommen –
von russischen Soldaten vor deren Abzug hingerichtet.
Butscha ist kein Einzelfall, da sind sich ukrainische Politiker sicher.
Auch aus anderen Orten, aus denen sich russische Soldaten zurückgezogen
haben, werden Gräueltaten berichtet. Ärzte im südukrainischen
Saporoschschje, wo Gerettete aus dem belagerten Mariupol landen,
berichteten am Wochenende von vergewaltigten Kindern mit horrenden
Unterleibsverletzungen. Russland sei schlimmer als der sogenannte
Islamische Staat, sagte Ukraines Außenminister Dmytro Kuleba am Sonntag in
einem Interview.
Aus ukrainischer Sicht sind Tötungen wie die in Butscha keine spontane Tat,
sondern geschehen auf Befehl, als Teil eines Kriegsplans. Sergej Sumlenny,
ehemaliger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, schrieb auf
[1][Twitter], er sei davon überzeugt, dass die Russen Massenhinrichtungen
geplant hatten: „Russland plante, Kiew innerhalb von drei Tagen zu erobern,
gefolgt von der Kapitulation der Ukraine. Den russischen Armeeeinheiten
folgte Antiaufstandspolizei zu Tausenden. Die russische Armee erwarb 45.000
Leichensäcke und brachte mobile Krematorien mit.“ Er verweist darauf, dass
am 1. Februar in Russland neue staatliche Richtlinien zum militärischen
Anlegen von Massengräbern in Kraft traten: wie man Gräber aushebt, mit
chemisch behandelten Leichen befüllt und dann zuschüttet und planiert. In
Gruppen von 16 Soldaten soll Russlands Militär in der Lage sein, alle drei
Tage ein Massengrab für 1.000 Menschen anzulegen.
## Das Ergebnis von Brutalisierung oder Fehlverhalten
Militärforscher Jack Watling vom Londoner „Royal United Services Institute“
(RUSI) schreibt: „Zu sagen, Butscha sei das Ergebnis von Brutalisierung
oder Fehlverhalten, ist falsch. Dies war der Plan. Es passt zu russischen
Methoden in Tschetschenien. Wäre das russische Militär erfolgreicher
gewesen, gäbe es viel mehr solche Städte. Dieser Kontext – die Ukrainer
wussten, dass es Truppen gab, die sich auf solche Taten vorbereiteten, und
der Kreml beschrieb die Existenz der Ukraine als Unfall der Geschichte –
erklärt auch, warum der ukrainische Widerstand so entschlossen ist. Sie
sehen das als Kampf um ihre Existenz.“
Die russische Offensive Richtung Kiew war in der vergangenen Woche
zusammengebrochen. Erst verlor Russland die nordwestliche Vorstadt Irpin;
in der Nacht zum Freitag gab der ukrainische Generalstab bekannt, bis zu
fünf russische Kampfgruppen seien nach Belarus zurückgezogen worden.
Zahlreiche Fotos und Videoaufnahmen belegten im Laufe des Freitags die
Rückkehr ukrainischer Truppen in von Russland aufgegebene Orte, die zuvor
wochenlang umkämpft gewesen waren – darunter Butscha. Auch auf der
östlichen Seite des Dniepr-Flusses zogen sich russische Streitkräfte
weiträumig auf russisches Gebiet zurück.
Laut [2][„Institute for the Study of War“] (ISW) aus den USA sind von 75 in
der Ukraine eingesetzten russischen Kampfgruppen (Battalion Tactical
Groups) nach ukrainischen Angaben vom Samstag 16 „vollständig zerstört“ u…
34 „degradiert“ und kampfunfähig. Russland konzentriert seine verbleibende
Feuerkraft jetzt auf den Osten der Ukraine. Beide Seiten meldeten am
Wochenende die bisher schwersten Kämpfe an den Frontlinien im Donbass.
3 Apr 2022
## LINKS
[1] https://twitter.com/sumlenny?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%…
[2] https://www.understandingwar.org/backgrounder/russian-offensive-campaign-as…
## AUTOREN
Dominic Johnson
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