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# taz.de -- Vom Wert der Dinge: Pappkiste mit Platten
> Eine Plattensammlung hat doch auch mit einem Leben zu tun. Und man mag
> sich dabei fragen, welcher Wert darin steckt.
Bild: Alte Kulturtechnik, ja. Aber auch: ein Wert an sich
Auf der Stufe einer Treppe, die zu einer Souterrainwohnungseingangstür
(wunderbare deutsche Sprache, in der solche Substantive möglich sind!)
hinabführte, sah ich letztens eine Kiste mit Platten stehen, die verschenkt
wurden. Eine ganze Kiste mit Schallplatten sieht man selten auf der Straße
herumstehen.
Einem Impuls folgend bückte ich mich – immer noch werde ich bei
Schallplatten gierig. Nach all den Jahren und meinem Apple-Music-Account
kommen sie mir immer noch wertvoll vor. Ich besitze einen sehr schönen
Plattenspieler und an Sonntagen höre ich mir [1][gerne und ganz in Ruhe
eine meiner Platten] an.
Es ist etwas anderes, eine Platte aufzulegen, als Siri eine Ansage zu
machen. Ich meine, ich kann diese Ansage präzisieren und die meisten meiner
Platten streamen. Manchmal mache ich das sogar und schäme mich deswegen und
rechtfertige mich dann vor mir selbst, dass der Wert in der Musik liegt,
die immateriell ist, und nichts mit einem Stück Vinyl oder Pappe zu tun
hat.
Und dennoch.
In besagter Kiste gab es große und kleine Platten, und sie hatten alle
etwas gemeinsam. Es war eine internationale Sammlung von Tänzen. Auf
einigen waren handschriftliche Notizen, auf vielen Plattenhüllen waren
Anweisungen für Tanzschritte aufgedruckt, offensichtlich war das einst ein
eigenes Genre, das Tanzplattengenre. Man legte die Platte auf, drehte die
Hülle um und übte anhand der Anweisungen die richtigen Schritte.
Vielleicht wünscht man sich, dass Menschen kommen und die Platten
mitnehmen, die vielleicht diese Platten auflegen und den auf der Rückseite
vermerkten Tanzschritten folgen möchten?
Ich nahm eine mit nach Hause. Ich suchte sie nach ihrem äußeren
Erscheinungsbild aus, denn ich habe keine Ahnung von Tänzen. Es war eine
israelische Platte, und es war auf eine Art ganz unerwartet, was ich zu
hören bekam. Nie hätte ich mir ja jemals einen israelischen Tanz gekauft.
Aber jetzt war es unerwartet und berührend. Ich weiß nicht, ob ich diese
Platte noch einmal hören werde, denn ich habe sehr viele Platten, und auch,
wenn ich jeden Sonntag eine höre, komme ich mit meiner Sammlung nur sehr
langsam voran.
Und ich frage mich immer noch, welchen Wert hat das alles?
Welchen Wert hat eine Plattensammlung mit Tänzen, wie sie da auf der Treppe
zu einem Souterrainwohnungseingang steht? Und wenn sie ihn einmal hatte,
hat sie ihn dann jetzt verloren? Liegt der Wert nicht in den Dingen,
sondern in dem, wie wir sie benutzen? Ist meine Mühe, diesen Wert zu
erhalten oder ihn den Dingen erneut abzutrotzen, indem ich sie nutze,
obwohl es gar nicht praktikabel ist, weil ich einfach sagen könnte: Siri,
spiel „Ascenseur pour l’échafaud“ (Was ich eigentlich nicht in der Lage …
auszusprechen, weshalb ich lieber doch die Platte auflege, um Siri nicht um
den Verstand zu bringen, den sie nicht hat), nicht vielleicht lächerlich?
Ist dieses Verhalten nicht irrational und sogar vollkommen verrückt? (Es
deprimiert mich nicht, mich das zu fragen. Alles, wonach Menschen sich
sehnen oder zurücksehnen, ist wenigstens in Anteilen immer irrational und
fiktional.)
Warum aber rührt es mich, eine Schallplattensammlung von Tänzen auf einer
Treppe stehen zu sehen?
Warum zerreißt es mir förmlich das Herz, während ich darin herumwühle?
Vielleicht ist es das Bild dessen, was am Ende übrig bleibt, von einer
Leidenschaft, von mir, von dem, was mir heute noch wichtig ist: eine
Pappkiste auf einer Souterraintreppe.
12 Jul 2022
## LINKS
[1] /Stay-home-und-hoere-Schallplatten/!5741428
## AUTOREN
Katrin Seddig
## TAGS
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