# taz.de -- Berliner Pop als Frisurenfrage: Die Haare richten | |
> Haare machen die Musik: Eine kleine und wirklich an den Haaren | |
> herbeigezogene Berliner Popgeschichte, anlässlich des nächstmöglichen | |
> Friseurbesuchs. | |
Bild: Strenge Zöpfe, strenger Blick: Romano, der Rapper aus Köpenick | |
Dass der Pop ohne Haare und die entsprechenden Moden gar nicht auskommen | |
kann, zeigt bereits ein stippvisitenhafter Blick in die Popgeschichte. | |
Manche musikalische Bewegung mag man sogar auf die Haartracht reduzieren, | |
als Erkennungszeichen: Gleich am Anfang die Tolle für den Rock ’n’ Roll, | |
die Bienenkorbfrisuren der Girl-Groups in den Sechzigern, was dann von Amy | |
Winehouse recycelt wurde. Und ohne den Pilzkopf kann man sich die Beatles | |
doch gar nicht vorstellen. | |
Aber die Haare wachsen nicht einfach so. Man gibt ihnen eine Form (oder | |
eben ganz bewusst nicht), weil man damit etwas sagen will. Ein | |
Gesprächsangebot. Oder das Gegenteil, zum Trotz. Was man sich heute ja gar | |
nicht mehr vorstellen kann, wie mit den Beatles und den Stones jeder | |
weitere Zentimeter Haar am Kopf für die Jugendlichen zum Kampf wurde, gegen | |
die Gesellschaft. So war das bei den Männern. Und bei den Frauen ging der | |
Kampf eher in die Gegenrichtung, wenn die alten Zöpfe abgeschnitten werden | |
wollten. | |
Haare bestimmten das Bewusstsein. | |
Ein kleines Lied aus den Mittsechzigern schildert die Positionen in diesem | |
Kampf. In seinem [1][beinharten Antiprotestlied] „Wir“ stellte sich Freddy | |
Quinn gegen alle Gammler und Dauerprotestierer. Er sang: „Wer hat sogar so | |
ähnliche Maschen, auch lange Haare, nur sind sie gewaschen? Wir! Wir! Wir!“ | |
Das Establishment und seine Haarpflegemittel. Letztlich aber hatte es | |
verloren und Freddy keine Chance mehr gegen die Langhaarigen, die mit dem | |
1968 uraufgeführten Hippie-Musical „Hair“ – „Haare“ in der deutschen | |
Version – einen unglaublichen Erfolg feierten. Im Kern ging es in dem | |
Singspiel schon darum, dass man für ein durchaus sinnvolles Leben überhaupt | |
nicht zum Friseur gehen muss. | |
Längst dürfen die Haare dahin wachsen, wohin sie wachsen sollen, je nach | |
Gusto. Im Pop und anderswo. Zuletzt aber mögen sie in pandemischer Zeit ein | |
bisschen zu viel gewachsen sein. Ab Montag jedoch kann man das in Ordnung | |
bringen lassen, Friseurbesuche sind dann wieder möglich. Und bis dahin mag | |
man vielleicht in einer kleinen Berliner Popgeschichte ein paar Albumcover | |
in Augenschein nehmen. Die Haarmoden betrachtend. | |
Natürlich gibt es auch Plattenhüllen von Berliner Bands in den Sechzigern | |
mit dem Pilzkopf, und Ende der Siebziger mehren sich die strubbelhaarigen | |
(Anti-)Frisuren der Punks, die wiederum die Einstiegshilfe sind für die | |
Galerie hier mit Nina Hagen. Die „Godmother of Punk“, immer schrill. Was | |
bei „Nina Hagen in Ekstasy“ von 1985 noch mit einem Ausrufezeichen versehen | |
ist. Diese Haare! So lang! So pink! Das spiegelt schon mal ein in | |
Modefragen nicht unbedingt dezentes Jahrzehnt. Dazu noch die Partydroge der | |
Achtziger im Titel. Alles schrill. Die visuelle Zusammenfassung einer Zeit, | |
in der die Beats doch härter auf den Tanzboden knallten. Statt tänzelnder | |
Disco nun die elektronische Tanzmusik, was schließlich etwas später in der | |
Erfolg von Techno münden sollte. | |
Noch aber wurde auch gerockt. Und die Ärzte müssen in dieser Berliner | |
Popgeschichte schon deswegen dabei sein, weil sie mit „Le Frisur“ 1996 das | |
Standardwerk zum Thema Haare herausgebracht haben. Ein Konzeptalbum, bei | |
dem sich alle Songs um Haariges drehen, mit so Hits wie „Mein Baby war beim | |
Frisör“, in dem heftig das Leid geklagt wird: „Mein Baby war beim | |
Haareschneiden / Jetzt kann ich sie nicht mehr leiden“. Der Friseurinnung | |
dürfte das weniger gefallen. Aber darum kann sich Punkrock nun wirklich | |
nicht scheren. | |
Toll schon das Cover mit dem Effektgeräte-Kopfteil samt der Matte aus | |
Kabeln drauf. Darf man als Seitenhieb auf Grunge betrachten, den | |
Langhaarigenrock, der damals in den Neunzigern noch ein Role-Model war. | |
Davon ist dann bei „Bring mich nach Hause“, 2010 als letztes Album von Wir | |
sind Helden erschienen, nichts mehr zu sehen. Da sieht man: wenig Haar und | |
kurzes Haar und das Haar lang und offen. Und das Haar als Bart. So schaut | |
sich hier der Querschnitt eines Band-Haushalts. Nichts, womit die Band | |
wirklich in einer bestimmten Zeit festzunageln wäre. Und so eben schon | |
wieder zeittypisch. Wie dann doch noch der Bart, der als Hipster-Accessoire | |
durch den Szenediskurs der nuller Jahre geisterte. | |
Das war auch das Jahrzehnt, in dem dann das Prinzip „Band“ im Pop mächtig | |
an Bedeutung verloren hat. Wieso sollte man sich schließlich streitend in | |
Kleingruppen auf etwas einigen, wenn man sich gleich solo selbst | |
verwirklichen kann? | |
Und die Haare tragen darf man sowieso längst nach Belieben. Ein Statement | |
aber bleiben sie. Und so, wie einen der in Köpenick geborene und mit Metal | |
und Schlager vertraute Rapper Romano von seinem 2015 erschienenen Album | |
„Jenseits von Köpenick“ anschaut, streng und gleichzeitig unbestimmt, nimmt | |
man seine Frisur zuerst nur nebenbei wahr als eine strenge Zopfrisur, die | |
halt eine strenge Zopffrisur ist. | |
Erst in einem zweiten Blick mag der Betrachtende dann entscheiden, ob das | |
jetzt wirklich einen Unterschied macht, ob diese Frisur mit den Zöpfen von | |
einer Frau oder einem Mann getragen wird. | |
27 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=4toCZmzILIs | |
## AUTOREN | |
Thomas Mauch | |
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