# taz.de -- Herbst in Altona: Gelbe Blätter und „Für Elise“ | |
> Ein Fußballspiel, Föhns, ein toter Filmregisseur und Beethoven. Die | |
> Kolumnistin weiß, das geht ein bisschen durcheinander. Aber so lebt man | |
> nun mal. | |
Bild: Herbstliche Stimmungslage | |
Wie ist die Stimmung? 3.500 HSV-Fans ziehen grölend vom Altonaer Balkon | |
über die Reperbahn zum Millerntorstadion. Ich sehe mir den Film „Masculin – | |
Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola“ an ([1][Godard ist | |
gestorben]). Währenddessen verfolgt mein Mann auf seinem iPad das Derby, | |
und dann wird der Tag zu dem Tag, von dem man später in Texten wird sagen | |
können: Das war der Tag, als St. Pauli 3:0 gegen den Hamburger SV gewann. | |
Auch ich stehe eher auf der Seite vom FC St. Pauli, die Mitte ist nichts | |
als ein Mythos. Deshalb stehen die Leute, die behaupten, weder rechts noch | |
links zu sein, meistens ein bisschen oder auch sehr viel weiter auf der | |
rechten Seite, als sie vielleicht glauben. | |
Die links von der Mitte sagen solche Sätze einfach nicht. | |
Ich las gerade in einem sehr guten Buch, „Anfänge. Eine neue Geschichte der | |
Menschheit“ von David Graeber und David Wengrow, dass schon vor fünftausend | |
Jahren mit Bällen gespielt wurde – eine oft sehr gewalttätige | |
Angelegenheit. Ein bisschen Gewalt gab es auch am [2][Freitag vor dem | |
Millerntorstadion]: „… das ist auch für die Polizei nicht schön, aber es | |
muss nun mal sein“, sagte Sandra Levgrün, die Hamburger Polizeisprecherin. | |
Mittwochnacht, nach meiner drittletzten Lesebühne, gehe ich die | |
Chemnitzstraße entlang und stoße auf eine Pappkiste mit vier Haartrocknern. | |
Ein Föhn ist schwarz, ein Föhn ist lila, ein Föhn ist türkis und ein Föhn | |
ist schwarz mit weißen Schmetterlingen (!), dazu Aufsätze, vielerlei | |
Föhn-Zubehör, aber nichts thematisch Abweichendes. | |
Ich zolle dieser monothematisch sortierten Kiste Anerkennung. Was hat sich | |
dieser Mensch gedacht? Fünf Föhne, da können doch vier weg? Einen wird er | |
wohl behalten haben? Ich gehe die Chemnitzstraße entlang und denke über das | |
Föhnen nach, ich föhne nicht, aber es ist etwas so Wohliges dabei, ein | |
Kindheitsgefühl. | |
Ich weiß, das geht ein bisschen durcheinander, aber so lebe ich nun mal und | |
nicht nur ich. Bringt man es in einem Text zusammen, gehört es zusammen, | |
das ist der Trick. | |
Am Freitagnachmittag, als der HSV-Fan sich längst eingegrölt hat, steht in | |
der Großen Bergstraße vor dem TK Maxx ein Mann, der auf der Gitarre „Für | |
Elise“ spielt. Die Große Bergstraße klebt voller gelber Blätter, der Himmel | |
darüber ist weiß, die Leute rennen rum und kaufen ein, der Mann spielt „Für | |
Elise“. Das ist die Stimmung, das ist der Herbst 2022 in Hamburg | |
Altona/Deutschland/Europa. In all dem ist noch mehr drin, in den | |
Einkaufstaschen, in den Bäuchen, in den Handflächen, während sie alle so | |
ihren Weg gehen und „Für Elise“ hören müssen, für diesen Moment. Das | |
entlockt den Leuten nichts, keinen müden Cent kriegt dieser Mann, es | |
wundert mich nicht. | |
Es sind die Bomben, die nebenher fallen, es sind die Eisfelder, die | |
nebenher schmelzen, und ich kaufe mir trotz allem kleine Kopfhörer, damit | |
ich unterwegs, auf der Straße, während ich so spazieren gehe, Musik hören | |
kann: „Ascenseur pour l’échafaud“, den Soundtrack zu dem Louis-Malle-Film | |
von Miles Davis. Jede geht auf ihre eigene Weise spazieren. | |
In dem Film von Godard geht manchmal plötzlich der Ton weg, dann bleiben | |
nur die Bilder, und dann ist der Film am härtesten, weil wir dann unserem | |
eigenen Ton ausgeliefert sind, in unseren eigenen Körpern. Ein Mann bittet | |
um Streichhölzer, ein Junge gibt sie ihm, der Mann zündet sich an. Aber man | |
sieht es nicht. Das Bild bleibt friedlich. Das ist die Stimmung, das ist | |
wie es ist. Und vier Föhne in einer Kiste, einer davon mit Schmetterlingen | |
bedruckt. | |
23 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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