# taz.de -- In den Krallen des Marktes: Eine unterkühlte Schatzsuche | |
> Neulich im Laden der Hamburger Stadtreinigung: die Kommerzialisierung der | |
> verstaubten „Gebrauchtwarenwelt“ trifft unsere Kolumnistin. | |
Bild: Secondhand boomt angeblich in deutschen Landen | |
Aus der Tagesschau erfahre ich, dass „Secondhand-Kleidung boomt“. Bedeutet | |
das, die Deutschen werden nachhaltig – oder die Deutschen kaufen sich zu | |
viele Klamotten, die sie bald wieder loswerden müssen, um neue kaufen zu | |
können? | |
Ich bin ein Mensch, der seine festen Gewohnheiten hat, Rituale der Freude. | |
Montags gehe ich zu Stilbruch, das ist [1][ein Laden der Hamburger | |
Stadtreinigung]. Was die einen loswerden wollen, hat für die anderen noch | |
einen Wert – und davon gibt es wenigstens zwei: den ideellen und den | |
Marktwert. | |
Letztens habe ich mir einen getöpferten Vogel gekauft. Er ist ein bisschen | |
unförmig und ich habe mich sofort in ihn verliebt! Einen Euro hat er | |
gekostet und sitzt jetzt unter meinem Weihnachtsstrauß. Was ist sein Wert? | |
Ich finde ihn wundervoll, auf Ebay würde man wohl nichts dafür kriegen. | |
Bis noch vor ungefähr einem Jahr konnte man im Stilbruch gut nach Platten | |
stöbern. Da steckte Drafi Deutscher zwischen Miles Davis und Samantha Fox. | |
Eine Platte für zwei Euro. Aber mittlerweile lohnt es sich kaum noch, in | |
den Fächern zu stöbern, sie sind auch ganz leer. Täglich kommen die | |
Händler, bewaffnet mit ihrem Handy, damit sie die Preise checken können, | |
und kaufen alles auf, was sich irgendwie verticken lässt. Sie lassen mir, | |
die ich eine Platte kaufe, um sie mir später zu Hause anzuhören, nichts | |
mehr übrig. | |
## Ware verknappt, steigender Preis | |
Ich hatte einmal die Idee, mir alle [2][„Maigret“-Bände] von Georges | |
Simenon zu kaufen, in der Ausgabe von Diogenes. Jeden Monat leistete ich | |
mir eines dieser Bändchen für zehn Euro, bis plötzlich die Rechte an einen | |
anderen Verlag gingen. Plötzlich konnte ich den nächsten Band der Reihe nur | |
noch gebraucht erwerben, aber zu einem hohen Preis. Da die Ware verknappt | |
war, stieg der Preis. Die dünnen Büchlein, die einst zehn Euro kosteten, | |
kosten jetzt vielleicht fünfundfünfzig. | |
Noch kurz vorher hätte man gebrauchte Bände für drei Euro kaufen können. | |
Ebay und das Internet mit all seinen Verkaufsplattformen haben dazu | |
geführt, dass sich der aktuelle Marktwert jeden Gegenstandes auf der Stelle | |
ermitteln lässt, und wer sich die Mühe macht, kann sich mithilfe seines | |
Handys ein kleines Geschäft aufbauen. | |
Wir leben alle in dieser Welt des Marktes und handeln nach seinen Regeln. | |
Die Professionalisierung und Kommerzialisierung der gemütlichen und | |
verstaubten „Gebrauchtwarenwelt“ trifft mich aber persönlich, weil es mir | |
die Romantik zerstört, das Gefühl, etwas finden zu können, einen Schatz, | |
wenn ich nur lange genug stöbere. Einen handgetöpferten Vogel kann ich | |
sicherlich noch immer im Stilbruch finden, eine richtig geile Platte aber | |
kaum. | |
So ist es auch mit den Tauschhäuschen, auf den Flohmärkten, mit all den | |
Dingen, die in der Stadt fast oder ganz verschenkt oder abgegeben werden. | |
Hegt man den schönen Gedanken, Dinge weiterzugeben, dann stellt man sich | |
doch vor, großzügig und eine Schenkende zu sein. Einmal will man kein | |
Geschäft aus einer Sache machen, und dann nimmt der Beschenkte die Sachen | |
an sich, um sie zu verkaufen? | |
Vielleicht ist es ja bigott, den Jäger*innen moralisch zu kommen, sie zu | |
verurteilen, denn sie tun ja nur, was wir alle tun: Sie machen etwas zu | |
Geld. Ich mache meine Texte zu Geld. So what! Wenn ich denen also was | |
schenke, unterstütze ich ihr Geschäft und trage zu ihrem Lebensunterhalt | |
bei – bemühe ich mich zu denken. Aber es gefällt mir nicht. Es kommt mir | |
vor, als ob die Krallen des Marktes in jede noch so verstaubte Nische | |
grabbeln, um auch die letzte Staubfluse zu Geld zu machen. | |
28 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.stilbruch.de/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Maigret | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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