| # taz.de -- Beim Bummeln durch die Stadt: Und dann begegnet man dem Hass | |
| > Es ist nicht schön, wenn man auf der Straße grundlos angeschrien wird. | |
| > Wenn jemand vor Wut spuckt. Und wenn man einfach weitergeht. | |
| Bild: Immer weiter schlendere ich und denke, warum? | |
| Wenn ich durch die Stadt bummele, finde ich immer was, der Boden ist voller | |
| Dinge und nie ist er voller, als im Herbst. [1][Im Herbst fällt auf einmal | |
| alles runter], der Wind wirbelt es durcheinander und dann liegt es wieder | |
| still und fault vor sich hin, anfangs noch hübsch bunt, später braun und | |
| schwarz und modrig. | |
| Das ist der Herbst. Er ist so schön. So dunkel. So sonnig. So warm. | |
| Dieses Jahr war der Herbst so warm. Ich gehe in ihm herum und finde Sachen. | |
| Ein Pappkarton mit Geschenken: Ein Edelstahlpflegespray, ein Bauklötzchen, | |
| auf dem der hintere Teil einer Kuh abgebildet ist, und eine auf MDF-Platte | |
| aufgezogene Fotografie. Ein Mann und ein Junge, im Hintergrund Berge. | |
| Ich bummele weiter und denke, warum? Immer weiter schlendere ich und denke | |
| immer weiter, warum? | |
| Warum will man ein privates Foto verschenken? Man kann doch so ein Foto | |
| nicht verschenken, wenn es die Leute noch gibt. Und wenn es sie nicht mehr | |
| gibt? Dann legt man doch erst recht das Foto dieser toten Leute nicht auf | |
| die Straße? Und wer überhaupt soll so ein Foto von unbekannten Leuten | |
| geschenkt haben wollen? (Dieses Foto war ja auf keine Weise ein irgendwie | |
| künstlerisches Foto, es hatte ja, außer für die abgebildeten Menschen, gar | |
| keinen erkennbaren Wert. Ich würde sogar sagen, es war kein besonders gutes | |
| Foto.) | |
| Ich grübele also, bis mich in der Bahrenfelder Straße eine Frau anschreit. | |
| Sie hasst mich aus ganzem Herzen, das kann ich in ihren Augen sehen. Sie | |
| schreit mich in einer mir unverständlichen Sprache an, einer möglicherweise | |
| jedem Menschen auf der Welt unverständlichen Sprache, außer natürlich ihr. | |
| Sie ist normal gekleidet, sieht nicht schmutzig oder verwahrlost aus, | |
| ungewöhnlich ist nur ihr Hass. | |
| Sie spuckt vor Wut. Sie stampft mit den Füßen auf und ihre Stimme | |
| überschlägt sich, wird rau. Sie brüllt wie ein Tier und sie hasst mich. Sie | |
| hasst jeden Menschen, der ihr zufällig entgegenkommt. | |
| Ich frage mich, ob man ihr helfen könnte. Sie wirkt nicht verletzt oder als | |
| ob sie körperliche Schmerzen hätte, sie scheint nur sehr wütend. Und ich | |
| habe Angst. Ich weiß nicht, wozu sie fähig ist. So laufe ich an ihr vorbei. | |
| Die Leute laufen alle an ihr vorbei. Die Frau schreit die Leute an, die | |
| Leute laufen vorbei, als würden sie überhaupt nicht angeschrien, und so | |
| geht es eben. So geht es immer. Es ist normal. In der Stadt laufen Leute | |
| herum, die einen anschreien. Das hat man schon erlebt. Das ist die Stadt. | |
| Da kann man nichts machen. | |
| Auch in meinem Haus wohnt ein Schreier. Er reißt sein Fenster im | |
| Erdgeschoss auf und schreit: „Ihr Amifotzen! Putin wird kommen – und – eu… | |
| alle töten!“ Leute laufen an ihm vorbei und tun, als wären sie nicht | |
| gemeint. Dabei sind sie gemeint. Wir alle sind gemeint. Ich will das Haus | |
| verlassen, ich öffne die Haustür, da steht er vor mir und schreit mir | |
| mitten ins Gesicht: „Die Deutschen haben nichts aus ihrer Geschichte | |
| gelernt!“ | |
| Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Die Worte hören sich nicht | |
| vollkommen falsch an, auch wenn er etwas ganz und gar Falsches damit meint. | |
| Ich sage „Okay“ und gehe meiner Wege. Was soll man tun? Ich weiß es nicht. | |
| Als ich wieder an der Kiste vorbeikomme, sehe ich mir das Bild mit den | |
| fremden Leuten genauer an. Sie schreien nicht, sie spucken nicht, sie | |
| liegen nur so da, in einer Zu-verschenken-Kiste und wollen, dass man sie | |
| als Geschenk annimmt, dass jemand sie haben will. Aber das will nun mal | |
| niemand. Ich glaube nicht. | |
| 28 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
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