Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Barbarei des flachen Landes: Eine Zugfahrt, die ist lustig
> Bedroht zu werden ist nie schön. Aber es macht doch einen Unterschied, ob
> man nur kurz in der U-Bahn aneinander kracht – oder im gleichen Kaff
> wohnt.
Bild: Manche lesen hier banale Selbstverständlichkeiten, andere übersetzen: �…
Ein bisschen witzig ist es schon, wie das Handy auf meine Suche nach „Karl
Kautsky“ und „Barbarei des flachen Landes“ hin zurückfragt, ob Google auf
meinen Standort zugreifen dürfe. Und mehr wollte ich im Grunde auch gar
nicht wissen: Was die arg heißgelaufene Phrase nämlich wirklich zu tun hat
mit [1][meinem Leben vor der Stadt und dem Arbeiten mittendrin].
Standortbestimmung ist nämlich wirklich der Punkt, auch wenn ich schon als
Stadtmensch vorsichtige Zweifel hatte, wenn der Hipsterfreund mit
„Barbarei“ vor allem die eingeschränkte Verfügbarkeit von Chai-Soja-Latte
meinte.
Entzündet hat sich die Frage allerdings doch an etwas handfesteren
Ärgerlichkeiten: an der Gewaltfrage nämlich und zwei unangenehmen
Begegnungen in der vergangenen Woche. Die erste spielt in Berlin und muss
schon darum als zivilisatorischer Normalbetrieb gelten: ein nächtlicher
Streit in der U7, ein bisschen Geschrei – und nach dem blöderweise
gemeinsamen Ausstieg in der Yorckstraße noch eine Flasche, die zwar vage in
meine Richtung flog, dann aber nicht mal effektvoll zerschmettern wollte
auf dem Bahnsteig.
Worum es ging? Keine Ahnung. Er hatte sich am Telefon gestritten, wollte
dann mit mir weitermachen und meine Deeskalationsstrategie von wegen „Jaja,
ist gut jetzt Junge“ war zu wenig oder zu viel oder wie auch immer.
Der Punkt ist jedenfalls: Ich hatte die ganze Geschichte circa 20 Minuten
später fast wieder vergessen, nachdem er irgendwo zwischen Gleisdreieckpark
[2][und Anonymität verpufft war] und ich eben woanders.
## Showdown am Arsch der Heide
Nun aber Landleben: Die zweite Geschichte spielt zwar auch in einer
langsamen Bahn, der regionalen allerdings, die sich am helllichten Sonntag
durchs Nirgendwo der abgeerntenen Äcker zu Hause schleppt. Hier weiß ich
auch genau, worum es ging. Ein älterer Typ hatte kurz die Maske ab, um
etwas verloren dreinblickend nach Luft zu schnappen.
Zurechtgewiesen wird er dafür aber nicht von mir, sondern von einem
mutmaßlich angetrunkenen Fredi, der aggressionsmäßig kurz vor 180 ein
Programm abspielt, das mindestens in der Rollenverteilung überrascht: „Wo
ist deine Befreiung, hä? Maske auf! Wegen solchen Pennern wie dir haben wir
die ganze Scheiße“ – und so weiter. Der junge Mann schreit also den alten
an und verweist dabei ausgerechnet von wegen anwesender Kinder auf die
Gesundheit, während er ihm Schläge androht.
Weil’s vorgestern ja nur so mittelgut geklappt hat, versuch ich’s neben
„Ist gut jetzt“ diesmal zusätzlich noch mit dem zarten Hinweis, dass der
Typ seine Maske nun schon seit zwei Minuten wieder trage. Auch das geht
schief und kurz vor seinem Ausstieg in meinem Nachbardorf pustet sich der
Typ nochmal auf und hinterlässt mir zum weiteren Nachdenken den Hinweis,
mir beim nächsten Mal „die Fresse einzuschlagen“, wenn ich nochmal „so d…
Maul aufreiße“. Und das habe ich tatsächlich nicht so schnell vergessen,
eben weil es so ein nächstes Mal – anders als in Berlin – wohl tatsächlich
geben wird.
Und auch wenn Googles Kalauer [3][meine vulgärmarxistische Kautskylektüre]
vorzeitig beendet hat, bin ich mir nun doch nicht mehr so sicher, ob an der
Barbarei des flachen Landes auch über Erb-, Pachtrecht und soziologisches
Allerlei hinaus doch auch etwas Handfestes steckt. Diese komische Macht
jener Gewaltmenschen, denen man immer wieder über den Weg läuft: der
Schläger im Zug so wie die immergleichen Sachbearbeiter:innen in der
Repressionsbehörde. Die bleiben einem hier erhalten, bis sie in Rente gehen
und lassen einem nichts zwischen Unterordnung und Eskalation.
Falls man nicht doch zwischendurch Glück hat und mal einer in die Stadt
zieht, um irgendwo am Gleisdreick zu verpuffen.
18 Nov 2022
## LINKS
[1] /Umzug-von-der-Stadt-aufs-Land/!5803934
[2] /Stressforscher-ueber-die-Nachteile-der-Stadt/!5543363
[3] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1899/agrar/1-09-schwierig.h…
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
Kolumne Speckgürtelpunks
Bahnverkehr
Gewalt
Das Milliardenloch
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Öffentlicher Nahverkehr
Schwerpunkt Stadtland
BVG
EU-Politik
Stadt-Land-Gefälle
## ARTIKEL ZUM THEMA
Bund will Schienenverkehr-Geld kürzen: Aufschrei im Norden
Der Bund plant Kürzungen im regionalen Schienenverkehr. Kritik kommt aus
Schleswig-Holstein von der dortigen Landesregierung und der Opposition.
Zurück aus der Hauptstadt: Berlin, die Stadt des Mangels
Endlich ist unser Autor wieder umgeben von Dohlen und Dorfgaragen. Nachdem
er sich in Berlin den Rest seines Hasses auf die Stadt abgeholt hat.
Der Unwille zur Macht: Mehr Aggressivität wagen?
Es ist sicher gut, zu hinterfragen, wer wo wie und warum das Sagen hat.
Aber heißt das umgekehrt, dass Machtpositionen grundsätzlich zu meiden
sind?
Zwischen Nordbahnhof und Südkreuz: Ersatzverkehr nach Nirgendwo
Das Berliner Nachtleben ist immer für überraschende Begegnungen gut – wenn
nicht auf der Party, dann eben im chronisch gestörten Nahverkehr.
Beim Bummeln durch die Stadt: Und dann begegnet man dem Hass
Es ist nicht schön, wenn man auf der Straße grundlos angeschrien wird. Wenn
jemand vor Wut spuckt. Und wenn man einfach weitergeht.
Sexualisierte Gewalt im ÖPNV: Der Zu-Nah-Verkehr
Wer sexualisierte Gewalt im öffentlichen Nahverkehr erlebt, sucht oft
vergeblich nach Hilfe. BVG und S-Bahn könnten etwa von London lernen.
Coronaproteste in Belgien: Ausschreitungen in Brüssel
Rund 50.000 Menschen haben in der belgischen Hauptstadt gegen die
Corona-Maßnahmen demonstriert. Im Anschluss kam es zu heftigen
Auseinandersetzungen.
Umzug von der Stadt aufs Land: Geistige Mülltrennung
Was bedeutet es, von der Großstadt aufs Land zu flüchten – ins Nichts
sozusagen? Über ein Lebensexperiment mit offenem Ausgang.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.