| # taz.de -- Zwischen Nordbahnhof und Südkreuz: Ersatzverkehr nach Nirgendwo | |
| > Das Berliner Nachtleben ist immer für überraschende Begegnungen gut – | |
| > wenn nicht auf der Party, dann eben im chronisch gestörten Nahverkehr. | |
| Bild: Nachts besonders schön und mit Umstieg sogar noch besser: Ersatzverkehr … | |
| Ich bin genervt! Es ist Samstagnacht kurz vor 2 Uhr – und ich will nach | |
| Hause. Sperrungen im öffentlichen Nahverkehr sind in Berlin ja keine | |
| Überraschung, aber diesmal betrifft es den S-Bahn-Tunnel, der die | |
| Nord-Süd-Verbindung der Stadt darstellt. [1][Zwischen Nordbahnhof und | |
| Südkreuz] fahren nur Busse im Ersatzverkehr. Nachts dürfte es hoffentlich | |
| schnell gehen. Denkt man. | |
| An der Friedrichstraße aber müssen die drei besoffenen Russen und ich | |
| aussteigen. Hier endet die Fahrt und man muss umsteigen. Mir ist weder | |
| klar, warum das so ist, noch wo genau sich die Haltestelle befindet. Als | |
| ich sie endlich finde und renne, sehe ich nur noch die Rücklichter des | |
| Busses. Ich fluche wie ein Bierkutscher und ein kleiner Mann ruft auf | |
| Englisch, dass der Fahrer ihn noch gesehen hätte und einfach losgefahren | |
| sei. | |
| Er sei sehr müde, denn er komme von der Arbeit an der Bar in einem | |
| Restaurant am Alexanderplatz. Ich meckere auf Englisch, dass ich nicht | |
| verstehe, warum man ausgerechnet in der Nacht den Ersatzverkehr nicht in | |
| einem Stück plant, sondern einen Umstieg vorsieht. C. nickt und lächelt. | |
| „Where do you come from?“, fragt er. Er findet, ich hätte Temperament. Es | |
| klingt anerkennend und ich muss lachen. „Berlin“, antworte ich. | |
| ## Flucht vorm Drogenkrieg | |
| C. erzählt, dass er vor zehn Jahren mit seiner Familie [2][aus El Salvador] | |
| kam. Er hat einen Sohn, erzählt er, und zeigt dessen Größe, indem er die | |
| Hand eine Armlänge über seinen Kopf hält. „21“, sagt er stolz. Da kommt … | |
| Bus, wir steigen ein und er fragt, ob ich mich zu ihm setze. Ich nicke. | |
| Er erzählt weiter: Zunächst seien sie in Hamburg gelandet, jetzt in Berlin, | |
| der Job sei hier besser und sein Sohn verdiene als Straßenbauer gutes Geld | |
| dazu. 660 Euro koste die Einzimmerwohnung und sein Sohn habe immer Hunger. | |
| C. macht eine Geste voller liebevoller Hochachtung. Deutschland sei sicher | |
| teuer, meint er und lacht. Doch alles besser, als in El Salvador einfach | |
| auf der Straße umgebracht zu werden. | |
| Ob ich schon mal von den Drogenkriegen gehört hätte? Ich schlucke und | |
| nicke. Sie mussten gehen, um ihr Leben zu retten. Das Leben seines Sohnes, | |
| fügt er hinzu, sieht mich an und vergewissert sich, dass ich verstehe. Ich | |
| nicke betreten und denke daran, dass ich mit meinen Kindern in Moabit mal | |
| den Spielplatz wechseln musste, weil ständig benutzte Spritzen herumlagen. | |
| Wie muss es sein, wenn man gleich das ganze Land, sogar den Kontinent, | |
| verlassen muss? Ich frage, ob er hierbleiben dürfe. „Yes“, lächelt er und | |
| sagt, er könne im nächsten Jahr seinen deutschen Pass beantragen. Vorher | |
| wäre noch ein Deutschtest dran. Und dann sagt er im allerbesten Deutsch: | |
| „Wenn ich müde bin, spreche ich lieber Spanisch oder Englisch. Ich bin sehr | |
| müde jetzt.“ | |
| ## Alles richtig gemacht | |
| Er fragt, ob ich Kinder habe und verheiratet sei. Ja, sage ich, zwei | |
| Kinder, Sohn und Tochter. Sie wären auch schon groß. „Sehr gut“, findet er | |
| und hebt einen Daumen. „We did everything right.“ Wenn die Kinder am Leben | |
| sind und gute Chancen haben, am Leben zu bleiben, sei alles gut gegangen, | |
| findet er. | |
| Ich nicke betroffen. Er erzählt von seiner Frau und dass sie sich getrennt | |
| hätten. Zweimal sei er verheiratet gewesen. Er hebt zwei Finger. Ich lache | |
| und sage: „Na, dann geht auch noch ein drittes Mal.“ Er schüttelt den Kopf. | |
| Das wäre das letzte Mal gewesen. Jetzt hätte er wirklich Besseres zu tun. | |
| „Ich muss leider aussteigen“, sage ich bedauernd, und er ruft auf Deutsch: | |
| „Komm zum Essen, bring deine Kinder mit, wir haben die besten Burger der | |
| Stadt und french fries. Frag an der Bar nach C., dann bekommst du Cocktails | |
| von mir.“ Er zwinkert. „It was a pleasure to meet you.“ Ich gebe das | |
| Kompliment zurück und wir schütteln uns die Hand. Aus dem Bus heraus winken | |
| wir uns noch einmal zu. | |
| Als ich oben auf dem S-Bahnhof ankomme, ist die Bahn grad weg. Die nächste | |
| kommt in 28 Minuten. Anstatt mich zu ärgern, bin ich aber mit dieser | |
| Begegnung beschäftigt und mit dem Gedanken, dass es fast überall auf der | |
| Welt keine Selbstverständlichkeit ist, am Leben bleiben zu können. | |
| 15 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| isobel markus | |
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