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# taz.de -- Der Unwille zur Macht: Mehr Aggressivität wagen?
> Es ist sicher gut, zu hinterfragen, wer wo wie und warum das Sagen hat.
> Aber heißt das umgekehrt, dass Machtpositionen grundsätzlich zu meiden
> sind?
Bild: Revolutionsangelegenheiten im Jahr 2000 auf dem Marktplatz in Göttingen
Vor ziemlich genau 25 Jahren traf mich in einem Pub am Rand der Göttinger
Fußgängerzone eine folgenschwere Erkenntnis. Ich war damals noch knietief
in Adoleszenzangelegenheiten verstrickt, und vielleicht kennen Sie diesen
Moment sogar: kurz vor der Pubertätshochwassermarke, wo es gerade am
allerschlimmsten ist, die Welle aber bald brechen wird und sich alles
beruhigt? Genau da spielt jedenfalls diese Geschichte, im Kreis meiner
Freunde und ein paar Pints irischen Exportbiers.
[1][Wir Dorfkids] waren den Tag über mit großen Augen durch die
linksradikale Unistadt geschlendert, hatten die Taschen voller Raubdrucke
[2][anarchistischer Literaturklassiker] aus dem legendären Buchladen Rote
Straße. Wir sprachen über die Zukunft, Weltschmerz und Krawallmusik, wir
tranken auch ein bisschen zu viel. Und irgendwo in meinem so improvisierten
wie unverlangten (und ehrlich gesagt auch kenntnisarmen) Monolog über
Bakunin und [3][Nestor Machno] müssen mir wohl Zweifel erwacht sein
darüber, ob das hier überhaupt irgendwen interessiere. Außer mir.
Heute würde man sagen, ich hätte mir Feedback erbeten. Treffender ist
wohl, dass ich einfach kurz die Klappe gehalten und gefragt habe, ob ich
die anderen gerade seit 20 Minuten volllabere, während sie eigentlich – so
für sich – ganz andere Sorgen hätten. Die Antwort hieß einstimmig: „Ja.�…
## Kritik tut eben weh
Das war ein kleiner Schock für mich, aber es ging noch weiter, und ungefähr
zwei Stunden später lag eine Generalabrechnung auf dem Tisch: darüber, wie
ich mein Umfeld dominiere, Themen setze und Menschen einbestelle, wenn ich
sie gerade für irgendein Projekt brauche, das wenig später auch wieder
verpuffe, weil mir die Lust darauf vergangen sei.
Getroffen hat mich das nicht nur, weil Kritik ja immer ein bisschen
schmerzt, sondern weil ja nicht grundlos diese billig kopierten Heftchen
voller Herrschaftsfreiheit und Gewaltlosigkeit in meinen Parkataschen
steckten. So wollte ich nicht sein, und ich beschloss noch in dieser
Kneipe, kurz vor Zapfenstreich, jetzt sofort für immer damit aufzuhören.
Wenige Monate später gab es diesen Freundeskreis nicht mehr. Vielleicht
weil nun eben gar keiner mehr wen „einbestellte“ oder Projekte anstieß –
vielleicht aber auch, weil niemand mehr ständig Terror schob und endlich
alle Luft hatten, sich um Dinge zu kümmern, an denen sie mehr Freude
hatten. Ich weiß es wirklich nicht.
Vielleicht mache ich heute ein paar Sachen besser, ich versuche es
jedenfalls. Wichtiger ist aber, dass ich seit damals vermieden habe,
überhaupt wieder Teil irgendeiner Clique zu werden, und mir da, wo
Strukturen dann doch nötig waren (ob [4][auf Arbeit], im Hobby oder in
Revolutionsangelegenheiten), Hintertüren offenzuhalten. Mir sind die
Machtstrukturen – gerade in Jungsgruppen – bis heute zuwider, und
wahrscheinlich habe ich auch ein bisschen Angst vor mir selbst. Zumindest
traue ich mir nicht so recht über den Weg, was das angeht.
## Und weiter?
Es macht nichts, dass diese Geschichte kein Happy End hat. Schlimm ist
hingegen, dass es überhaupt kein Ende gibt. Ich kam zum Beispiel gerade
wieder auf dieses Erlebnis, weil ich letzte Woche zwei besoffene
Fußballidioten vor der Regionalexpresstür entschieden wegmackern musste, um
dem Kind an meiner Hand zu zeigen, dass aggressive Arschlöcher eben nicht
automatisch als Sieger vom Platz gehen.
Seitdem frage ich mich, ob ich selbst eins war – und was überhaupt die
Alternative ist im Streit mit Autoritären, die ja auch in anderen Kontexten
nicht verschwinden, nur weil einer nicht mehr mitspielen will. Nicht nur im
Vorbeilaufen an der Bahntür, sondern eben auch langfristig in Arbeit, Hobby
und Revolutionsangelegenheiten.
Vielleicht ist das ja die sich annahende Pointe dieser noch offenen
Geschichte: der Versuch, grundsätzlich und mit Fingerspitzengefühl wieder
mehr Aggressivität zu wagen? So ganz richtig fühlt sich das allerdings auch
noch nicht an.
19 Feb 2024
## LINKS
[1] /Radikale-vom-Dorf/!5850514
[2] /151-Jubilaeum-Anarchismus-Kongress/!5947143
[3] /Anarchistisches-Ehrenamt-in-der-Ukraine/!5982677
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/SNAFU
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
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