| # taz.de -- Radikale vom Dorf: Drüben auf dem Hügel | |
| > Linksradikalismus ist eine Sache der Metropolen, heißt es. Unser | |
| > Kolumnist glaubt das nicht: Man spaltet sich dort nur souveräner. | |
| Bild: Nicht im Bild: Landleben | |
| Es ist Montag, 2. Mai, und wieder war keine Revolution gewesen. | |
| Überraschend war das nun nicht, aber irgendwo ganz tief drin kitzelt sie | |
| schon noch, diese Neugier auf die Zeitung am Morgen danach. Daran haben | |
| auch bald 20 Jahre Krawallabstinenz und [1][das Leben auf dem Land] nichts | |
| geändert – wo sich nicht mal die ironisch zu verdrückende DGB-Bratwurst | |
| auftreiben ließ. Aber eben: Nachlesen schadet ja nicht, ob vielleicht doch | |
| wer über Nacht alle Verhältnisse umgeworfen hat, in denen der Mensch ein | |
| erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes und verächtliches Wesen ist. | |
| Gerade hier draußen am Acker würde man’s ja wahrscheinlich auch gar nicht | |
| sofort mitbekommen. Denn darin sind sich ja ausnahmsweise mal wirklich alle | |
| einig: Es wäre schon eher die Revolution der Metropolen gewesen und nicht | |
| der Speckgürtel, Kreisstädte, Samtgemeinden, Flecken und Dörfer. | |
| Totaler Quatsch hingegen ist die Behauptung, beides hätte nichts | |
| miteinander zu tun. Denn erstens sind ja mindestens zwei Drittel der | |
| radikalen Großstadtlinken hier groß geworden, bevor sie auf der Flucht vor | |
| Tristesse, Langeweile – und vor sich selbst – nach Berlin rübergemacht | |
| haben. Und zweitens sind wir ja auch als Dorflinke zum 1. Mai in die | |
| Großstadt gefahren, auch wenn wir vorher nicht immer so ganz genau wussten, | |
| wo wir da eigentlich ankommen würden. | |
| ## Streit um die Marschordnung | |
| Ich erinnere mich zum Beispiel noch gut, wie bedrückt eine Dorfgenossin mal | |
| war, nachdem sie auf der Suche nach revolutionärer Einheit mitten in der | |
| urbanen Spaltungslinken gelandet war. Vermutlich ging’s um Israel, | |
| vielleicht aber auch um Kosovo, die Nato und so weiter. Jedenfalls stritt | |
| man sehr viel über Inhalte und über die Frage, welches Grüppchen nun wie | |
| weit vorne mitlaufen durfte. Das war alles richtig und wichtig, aber wir | |
| Jugendliche vom Dorf waren trotzdem überfordert von der Weltpolitik – und | |
| hatten uns die massenhafte Offensive gegen das Schweinesystem irgendwie | |
| anders vorgestellt. | |
| Das ging in den Folgejahren übrigens auch genauso weiter, was auch für | |
| ausgewachsene Landlinke nicht immer ganz einfach war. Irgendwann Anfang der | |
| nuller Jahre waren wir dann im Wendland, [2][von wegen verlogener | |
| Atomkompromiss]. Da durften die grünen Verräter:innen nach langem Hin | |
| und Her doch noch mitlaufen, aber eben nur ganz hinten im Block. Manche | |
| haben geweint. | |
| ## (K)ein Herz für Grüne | |
| Das Grün-Sein verstehe ich bis heute nicht, ihre Trauer inzwischen aber | |
| doch. Wer will das nicht: Verschmelzen mit der kämpferischen | |
| Projektionsfläche, die man sonst nur aus der Ferne kennt? Endlich unter | |
| Gleichen statt nur unter Nachbarn. „Global denken, lokal kämpfen“ sagt der | |
| Öko-Autonome, wobei „global“ damals vor allem hieß: in Deutschlands urban… | |
| Linken. | |
| Mit der Zeit habe ich mich nicht nur gewöhnt an die Spalterei, sondern bin | |
| gerade über die tiefsten Risse auch sehr froh: Wenn man schrumpft, weil man | |
| seine durchgeknallten „Israelkritiker:innen“ und Sektenfredis rausschmeißt, | |
| dann war Masse vielleicht einfach die falsche Idee. Müde bin ich trotzdem. | |
| Am 1. Mai habe ich an die Bremer Räterepublik gedacht und an den | |
| satirischen Roman „Der schwarze Magier“, den ich [3][vor einer Weile mal | |
| las]. Da wird erzählt, wie sich die linke Künstlerkolonie in Worpswede auf | |
| einem Hügel versammelt und aus der Ferne den Einmarsch des rechten | |
| Freikorps Caspari in Bremen beobachtet. Und ich habe mich gefragt, ob das | |
| nicht droht Blaupause auch meines Landlebens zu werden, wenn man die | |
| Metropolenlinke zu sehr ignoriert, nur weil sie halt ein bisschen doof ist. | |
| Denn das kann’s ja auch nicht sein: die urbane Katastrophe wachsam im Blick | |
| zu behalten – um dann doch nicht hinzufahren, wenn es ernst wird. | |
| 6 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
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