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# taz.de -- Krankheit und Arbeit: Krank geschrieben, krankgeschrieben
> Warum man vom Kranksein schreibt? Weil Männer nur unter verletzter Ehre
> und diagnostizierten Krankheiten leiden dürfen, wollen sie es dann auch.
Bild: Braucht man manchmal: die Bescheinigung seiner Unfähigkeit
Ich bin zwar ganz furchtbar krank, aber nicht so, dass man sich Sorgen
machen müsste. Die Ärzte tun das jedenfalls nicht, was anfangs allerdings
auch daran lag, dass sie gar nicht wussten, dass es mich überhaupt gibt.
Dabei wäre ich diesmal am liebsten gleich zu diesem „Hausarzt“ gegangen,
den ich immer angebe, wenn jemand danach fragt. Nur zeigte leider schon
eine oberflächliche Recherche: Er ist seit ein paar Jahren in Rente und
möglicherweise schon gestorben.
Was Arztbesuche angeht, bin ich eher Theoretiker. Auf Anhieb fallen mir
jedenfalls mehr medizinkritische Essays und Bücher ein als tatsächlich
durchlebte Behandlungen.
Bis zu meinem 30. Geburtstag war ich offenbar nie krank – und habe mich
noch nicht so recht daran gewöhnt, dass es inzwischen anders ist. Und
ehrlich gesagt hat auch Corona nicht wirklich was an meiner Spritzenangst
geändert – oder an meinem tiefen Misstrauen gegenüber dem Betrieb. „Der
durchschnittliche Patient ist nur noch eine Nummer“, steht bei Horkheimer,
„höchstens ein interessanter Fall.“
Tja, aber nun bin ich eben krank und wäre gerne ein Patient, meinetwegen
auch eine Nummer oder notfalls sogar ein interessanter Fall. Stattdessen
bin ich aber [1][Landbewohner ohne Hausarzt], den man von wegen Ärztemangel
leider auch gerade nicht aufnehmen kann, „tut uns wirklich Leid“.
## Die Diagnose?
Bevor sich aber nun doch jemand Sorgen macht: Es hat nach ein paar Tagen
dann geklappt und inzwischen träume ich nicht mal mehr von den
Warteschlangenmelodien aus dem Telefon. Was genau ich habe, weiß ich
allerdings immer noch nicht. Wohl mehrere Krankheiten gleichzeitig: als
„multimorbider Patient“ wollte ich mich hier schon vorstellen, aber das
gilt leider nur bei chronischen Erkrankungen. Das mit dem Outen-wollen ist
allerdings wirklich spannend. Woher rührt dieser unbändige Wunsch, mit dem
eigenen Siechtum nicht nur Familie und Kolleg:innen zu nerven, sondern
auch noch Texte zu bespielen?
Die gendermäßige Antwort auf die Frage ist: Weil Cis-Männer ja
ausschließlich unter verletzter Ehre und vom Herrn Doktor diagnostizierten
Krankheiten leiden dürfen, wollen sie es dann bitteschön auch tun. Es gibt
eine noch banalere Antwort, die ich auch nicht verschweigen will: Wer krank
ist, ist krank und hat sonst eben nicht viel zu erzählen. Und die Kolumne
jetzt abzusagen? So krank bin ich dann auch wieder nicht.
Interessanter ist aber doch die Männerfrage. Anna Ternheim singt in einem
Lied von einem „[2][place in the sun where broken men, heal their wounds]“.
Das könnte ein schönes Bild sein fürs gelegentliche Runterkommen, wofür
gerade auch Männer dringend Werbung machen sollten bei ihren Blutsbrüdern
und Kameraden: mehr Achtsamkeit im Alltag statt den jährlichen Nahtod durch
Männergrippe!
## Endlich mal runterkommen
Natürlich ist das alles ein bisschen vulgär gedacht. Arbeitsethos,
Leistungsdruck und (Selbst-)Ausbeutung: Das alles ist komplex und lässt
sich nicht mal eben mitleidheischend am Beispiel multipler Erkrankungen
abhandeln – von denen ehrlich gesagt keine einzige besonders schlimm ist,
die nur in Summe nerven wie Sau.
Aber skandalös ist es schon, dass wohl nicht nur ich mir gelegentlich
wünsche, einfach richtig krank zu sein – um endlich mal runterzukommen.
Dabei fällt mir übrigens noch ein anderer Horkheimer-Text ein, den ich mit
anderen Augen las, als ich noch dauergesund war: „Der Arzt heute hat im
allgemeinen ein Interesse daran, dass ein Mensch, der krank ist, gesund
wird“, steht da, „jedoch keines, dass er gesund ist und nicht krank wird.“
Na ja, und bei diesem Spiel mache ich nun eben auch mit, weil die
Alternativen noch schlimmer sind. Sowohl das ungeheilt bleiben, als auch
sich mit Vorsorge, Selfcare und Prävention abzumühen, nur um weiter gesund
genug fürs Arbeiten zu bleiben.
13 Jun 2022
## LINKS
[1] /Medizinische-Versorgung-auf-dem-Land/!5855737
[2] https://www.youtube.com/watch?v=GuauI3pH9Yw
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
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Krankheit
Arbeit
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