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# taz.de -- Stadt versus Land: Was Corona verändert hat
> Nur Stadt ist cool und kreativ? Corona hat an dieser alten Gewissheit
> gerüttelt. Immer mehr Menschen zieht es nicht erst seit der Pandemie aufs
> Land.
Bild: Aus Schlafdörfern werden Tagdörfer: Der Werbellinkanal in Marienwerder …
Corona ist [1][angeblich vorbei] – doch es hat manches dauerhaft verändert.
Wenn Sie wie ich gleich nach dem Abi aus der Provinz in die Stadt geflohen
sind, glauben Sie vielleicht auch lange: Wer sich frei entwickeln will,
muss nach Hamburg, Berlin, dorthin wo täglich neue Start-ups gegründet und
Lösungen für die Probleme von morgen gesucht werden. Städte stehen für ein
kreatives soziales Umfeld.
Doch plötzlich breitete sich [2][Sehnsucht] aus, nach Bäumen, sattem Grün.
Monate im Lockdown, umgeben von Beton, haben diese Sehnsucht noch
verstärkt. Nachdem im vergangenen Jahr das Bundesverfassungsgericht auch
noch die Berliner Mietpreisbremse gekippt hat, werden die Kosten für ein
Leben in der Stadt langfristig weiter steigen und der Kampf um Platz wird
sich zuspitzen – höchste Zeit, die eigenen Gewissheiten zu hinterfragen!
Seit einigen Jahren gelten [3][strukturschwache Gegenden] wie Nordhessen
als entschleunigend, ein Architekt, der aus Berlin in die Braunkohleregion
Lausitz zog, schwärmt von einer Gründerstimmung in Brandenburg wie im
Berlin der 90er Jahre.
Das spiegelt sich auch in der Wanderungsbilanz deutscher Städte: Laut einer
Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung verlieren
Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern immer mehr Menschen wegen Umzugs
– insbesondere im Westen. Ohne den Zuzug aus dem Ausland würden sogar
[4][Berlins Einwohnerzahlen] längst sinken. Verlor die Hauptstadt 2010 noch
überschaubare 2.000 Berlinerinnen und Berliner an Brandenburg, zogen 2019
schon fast 17.000 mehr Menschen ins Umland als umgekehrt, vor allem
Familien.
Für viele ist die [5][neue Landlust] bislang aber immer noch ein Traum:
2019 lebte knapp jeder dritte Deutsche in einer Großstadt mit mehr als
100.000 Einwohnern und gerade einmal 14 Prozent in kleineren Gemeinden mit
einer Bevölkerung von weniger als 5.000 Menschen. Umfragen zufolge
liebäugelt aber ein größer werdender Anteil mit einem Umzug aufs Land. Noch
kurz vor Ausbruch der Coronapandemie wollten laut einer Erhebung von Kantar
34 Prozent der Deutschen gern auf dem Dorf leben und 27 Prozent in einer
Kleinstadt im ländlichen Raum. 26 Prozent bevorzugten demnach den Stadtrand
und nur 13 Prozent ein Leben in der Stadt.
## Städte sind unattraktiv geworden
Corona wirkte wie ein Katalysator: Einer Umfrage im Auftrag der Zeit aus
dem Sommer 2020 zufolge wünschte sich ein Drittel der befragten
Stadtbewohner einen Umzug aufs Land oder in eine Kleinstadt, bei knapp
einem Zehntel war dieser Wunsch wegen Corona entstanden oder hatte sich
verstärkt. Städte sind so unattraktiv geworden, dass das Land als
Alternative wieder infrage kommt. Als Alternative, die jeder mit seinen
eigenen Ideen bespielen kann.
Denn der Hype um Berlin, Köln oder München hat die Städte verändert: Die
Straßen sind voll, die Parks zertrampelt und die Mietpreise für Wohnungen
und Büros in den letzten Jahren enorm gestiegen. Da Platz begehrt, aber
begrenzt ist, wird er immer teurer. Freiräume und Orte für kreativen
Austausch verschwinden.
Wer einen Platz in der Kita will, muss sich in manchen Städten schon vor
der Geburt des Kindes bewerben und oft entscheidet ein Los darüber, ob der
Nachwuchs auf die gewünschte Schule kommt. Mit den in der Pandemie
geschlossenen Kinos, Restaurants, Konzerthäusern und Museen sind jetzt auch
die letzten Vorteile von Städten dahin.
Auch die Arbeitswelt hat sich durch Corona rasant geändert. Menschen
arbeiten – wo möglich – remote, insbesondere in den Großstädten, in denen
sich die wissensintensiven, computerbasierten Tätigkeiten konzentrieren,
die theoretisch auch auf die Kanaren oder in den Wald verlegt werden
können, solange es dort eine Internetverbindung gibt. Wer nur ein- oder
zweimal pro Woche ins Büro muss oder gar komplett von zu Hause aus
arbeitet, der kann nicht nur seinen Urlaub verlängern und am Strand
arbeiten. Der kann auch genauso gut in der brandenburgischen Prignitz leben
wie in Berlin.
Aber nicht nur der Blick aufs Land hat sich geändert, sondern sogar einige
Ortschaften selbst: Während die Städte immer voller werden, Kieztheater
dichtmachen und Coworking Spaces so elitär geworden sind, dass sich die
Miete fast nur Firmen leisten können, entstehen plötzlich ähnliche Angebote
auf dem Land. Sie sind aber keine Kopien der Modelle aus der Stadt.
Stattdessen passen sie sich an die Menschen vor Ort und ihre Bedürfnisse
an.
Nicht der Profit steht im Vordergrund, sondern die Idee, Pendlerinnen und
Pendlern eine Alternative zu bieten, den Ort zu beleben und die
Lebensqualität zu steigern. Wo auch tagsüber Menschen sind, lohnt es sich,
ein Café oder eine Gaststätte zu betreiben. Schlafdörfer werden so zu
Tagdörfern.
## Ideenwerkstätten für Kinder, Netzwerke für Unternehmer
Das Leben auf dem Dorf erinnert mancherorts zunehmend an das in einem
Großstadtkiez. Im ehemaligen Bahnhof von Fürstenberg an der Havel in
Brandenburg haben Daniel und Anke Domscheit-Berg eine Hightech-Werkstatt
für Kinder eröffnet. In Niederbayern organisiert die Initiative Silicon
Vilstal Ideenwerkstätten für Kinder und Jugendliche, ein Coaching- und
Coworking-Programm zwischen Gründerinnen, Gründern und regionalen Akteuren
und Workshops und Ausstellungen in Pop-Up-Stores. Neuartige
Unternehmernetzwerke wie die Homeberger im strukturschwachen Nordhessen
bringen Kreative und Firmen zusammen, die nachhaltig wirtschaften, und
werben für die Vorteile von ortsunabhängigem Arbeiten auf dem Land.
Steht Deutschland also am Anfang einer neuen Landbewegung? Eine Trendwende
ist wahrscheinlicher geworden, aber [6][der ländliche Raum wird
flächendeckend nur mit schnellem Internet ausgestattet] attraktiver werden.
Nur mit leistungsfähigem Anschluss haben viele Dörfer als Alternative zu
einem Leben in der Stadt eine Chance.
4 Jan 2023
## LINKS
[1] /Streit-ueber-Maskenpflicht/!5902107
[2] /Gentrifizierung-erreicht-das-Umland/!5832638
[3] /Probewohnen-in-schrumpfenden-Orten/!5841214
[4] /Foerderprogramm-fuers-Landleben/!5815462
[5] /Projekte-im-laendlichen-Raum/!5825734
[6] /Digitale-Infrastruktur-in-Deutschland/!5511503
## AUTOREN
Julia Maria Amberger
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