| # taz.de -- Coworking auf dem Land: Die neue Landarbeit | |
| > Coworking-Spaces auf dem Land bieten nicht nur frische Luft für | |
| > gestresste Stadtmenschen. Sie sind Testlabore für den Umbau der | |
| > Arbeitswelt. | |
| Bild: Coworking im Torf-Hub in Kastorf | |
| Tom, der Mops, tappt vom Schreibtisch seines Herrchens über den mit | |
| Holzplatten belegten Boden. Er läuft vorbei an Arbeitsnischen, an der | |
| Sitzecke mit den orangefarbenen Sesseln, an der Station mit Drucker und | |
| Büromaterial, und das Klicken seiner Krallen mischt sich mit dem Klackern | |
| eiliger Finger auf Computertastaturen. Durch die hölzerne Schiebetür trabt | |
| Tom in die Küche: Dort zischt die Kaffeemaschine, Stimmen plaudern in einem | |
| Gemisch aus Deutsch und Englisch. Klingt, als gäbe es da etwas zu fressen | |
| oder jemanden, der ihn streichelt. | |
| Für Tom sind die Tage, in denen sein Herrchen im Coworking-Space arbeitet, | |
| gute Tage: „Er ist gern unter Menschen“, sagt Henning Springhorn. | |
| Springhorn sitzt im Großraumbüro vor einem Bildschirm, vor sich ein Laptop | |
| und ein Smartphone. Der 26-Jährige könnte ebenso gut zu Hause bleiben, | |
| einen Schreibtisch hat er auch in der Wohnung in Hamburg, die er sich mit | |
| Freundin und Mops teilt. „Aber da fällt mir manchmal die Decke auf den | |
| Kopf“, sagt er. Dann setzt er sich ins Auto und fährt aus der Stadt aufs | |
| Land, in [1][den Torf-Hub in Kastorf]. | |
| Das Dorf in Schleswig-Holstein besteht nur aus einer Handvoll Straßen, es | |
| gibt keinen Laden, aber eine Tankstelle, einen Imbiss und neuerdings ein | |
| kleines Ärztehaus. Rund 1.200 Menschen leben hier, doppelt so viele wie | |
| noch vor einigen Jahren, verrät die [2][Gemeindehomepage] stolz. Dennoch | |
| scheint es erst mal kein Ort zu sein, an dem ein Labor für die Arbeit von | |
| morgen entsteht. Tatsächlich war Kastorf nicht die erste Wahl für Jule | |
| Lietzau und Florian Watzke, das Gründungsduo des Torf-Hub: „Wir wollten | |
| nach Bliestorf, haben da aber keine passenden Räumlichkeiten gefunden“, | |
| sagt Lietzau. Bliestorf liegt vier Kilometer nordwestlich von Kastorf und | |
| ist mit 650 Einwohner*innen etwa halb so groß. | |
| Coworking im ländlichen Raum ist ein vergleichsweise neues Phänomen. Aber | |
| eines, das sich schnell entwickelt. Ein treibender Faktor war die | |
| Coronapandemie, sagt Nicole Dau. Sie ist Sprecherin von [3][CoWorkLand, | |
| einer Genossenschaft] mit inzwischen etwa 250 Coworking-Büros bundesweit. | |
| Einen Schwerpunkt bildet Schleswig-Holstein. | |
| Dort liegen auch die Wurzeln der Genossenschaft: Sie hat sich aus einem | |
| Projekt der Heinrich-Böll-Stiftung entwickelt, die 2018 in verschiedenen | |
| Orten Container aufstellte und darin Coworking anbot. Gefördert wurde das | |
| Modell vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und sollte | |
| „die ländliche Bevölkerung dazu animieren, selbst Coworking-Spaces | |
| einzurichten“, unterstützt mit „speziellen Tools und Finanzierungsmodellen… | |
| der Stiftung. | |
| In Gettorf stand der Container direkt auf dem Dorfplatz, „das Amt hatte | |
| schnelles Internet gelegt“, erinnert sich Ulrike Münzberg-Niemann, | |
| zuständig für die Wirtschaftsförderung der 8.000-Personen-Gemeinde, die | |
| nahe der Ostsee zwischen Kiel und Eckernförde liegt. Es gab Dorfkino, | |
| Treffen für Start-ups, Kaffee, Gespräche, und irgendwann tauchte die Frage | |
| auf, ob die Gemeinde selbst einen Coworking-Space betreiben könnte. | |
| ## Alte Arbeitswelt trifft neue | |
| Die Coronapandemie verzögerte das Projekt, machte aber gleichzeitig | |
| deutlich, wie sinnvoll ein solches Büro als Alternative zum Homeoffice ist. | |
| Inzwischen arbeitet „Gettwork“ erfolgreich in einem Haus, in dem früher | |
| Kutschen gebaut wurden: Alte Arbeitswelt trifft neue. | |
| Auch in Kastorf sind noch Spuren der Vorgänger zu finden. Der Torf-Hub – | |
| das „Torf“ steht für Kastorf – befindet sich in einer ehemaligen | |
| Schreinerwerkstatt, Fotos von früher hängen im Flur, eine gezimmerte | |
| Holztruhe steht im Besprechungsraum. Beton, Stahlbalken unter der | |
| Tonnendecke, offene Holzregale in der Küche: Alles solle ein bisschen roh, | |
| unfertig, „industrial“ aussehen, sagt Hub-Gründerin Lietzau, die gern | |
| englische Wörter einstreut. So heißt das größte Büro, das Platz für vier | |
| Schreibtische, Sofaecke und Druckerstation bietet, selbstverständlich „Open | |
| Space“. | |
| Die 35-Jährige stammt aus Bremen, ist Zimmerergesellin, hat in Zürich und | |
| in Schweden gelebt und in Lüneburg und Hamburg Umweltwissenschaften und | |
| Stadtplanung studiert, bevor sie mit ihrem Partner nach Bliestorf zog. | |
| Schon früh hat sie geärgert, dass Stadtplanung kaum auf den ländlichen Raum | |
| schaue. Als sie im Studium auf das Thema Coworking stieß, „habe ich mich | |
| richtig darin verbissen“, sagt sie. Per Anzeige im Bliestorfer Amtsblatt – | |
| ja, tatsächlich – suchte sie Interessenten für ein Gemeinschaftsbüro. Zwei | |
| Personen meldeten sich, darunter Florian Watzke. | |
| Der 40-Jährige kehrte nach zahlreichen Stationen, darunter Berlin und | |
| Madrid, in sein Heimatdorf Bliestorf zurück, weil sein Mann und er mit den | |
| Kindern in der Nähe der Großeltern leben wollten. Watzke arbeitet als | |
| Trainer, Coach und in der Personalentwicklung, alles online, vom | |
| heimischen Schreibtisch oder im Torf-Hub, wie es gerade passt. Lietzau hat | |
| aus der Cowork-Idee einen Beruf gemacht, sie berät andere Gründer*innen | |
| und Gemeinden bei der Umsetzung. Den Torf-Hub betreiben sie nebenbei. | |
| Ob Coworking auf dem Land gelingt, hänge davon ab, ob sich genügend | |
| Personen für das Konzept begeistern, weiß Nicole Dau: „Man muss erklären, | |
| was das soll, für wen es ist.“ Im Idealfall trifft sich dort auch „der | |
| Häkelzirkel von Oma Meyer“ und örtliche Sportvereine halten ihre | |
| Versammlungen ab. Es brauche vor der Gründung viel Kommunikation, mit | |
| möglichen Mieter*innen und der Gemeinde: „Am besten hat man erst die | |
| Gemeinschaft, dann den Space.“ | |
| In Gettorf, wo der Ort selbst der Betreiber ist, dauerte der Vorlauf ein | |
| Jahr. Der Gemeinderat richtete eine Arbeitsgemeinschaft ein, | |
| Bürger*innen und Vereine wurden befragt, die AG-Mitglieder fuhren über | |
| Land und schauten bestehende Büros an. Gleichzeitig suchten sie ein Gebäude | |
| – „möglichst zentral, denn in der Wallapampa bringt das nichts; mit | |
| Parkplätzen, Gastronomie und dem Bahnhof in der Nähe“, zählt | |
| Münzberg-Niemann auf. Inzwischen nutzen 40 Personen die 24 Arbeitsplätze | |
| regelmäßig, schätzt sie. Die landeseigene IT-Firma Data Port belegt | |
| dauerhaft mehrere Schreibtische und sorgt als Ankermieterin für planbare | |
| Einkünfte. | |
| Die übrigen sind Selbstständige, die nicht ständig zu Hause sitzen, und | |
| Angestellte, die nicht pendeln wollen, Urlauber*innen oder ehemalige | |
| Gettorfer*innen, die wochenweise im Ort ihre Eltern pflegen und ein | |
| Plätzchen zum Arbeiten brauchen. Studierende oder Schüler*innen nutzen | |
| das Gettwork vor Prüfungen, Start-ups testen, ob es klappt mit der | |
| Selbstständigkeit. | |
| Bis 2025 läuft der Betrieb mindestens, dann wird neu entschieden. „Ich bin | |
| ein bisschen stolz auf die Gemeinde, dass die sich das getraut haben“, sagt | |
| Münzberg-Niemann. Aus ihrer Sicht besteht der Erfolg des Projekts nicht nur | |
| darin, ob es sich wirtschaftlich trägt, sondern welche Chancen es für die | |
| Gemeinde bietet: „Wir bringen Leute zusammen, fördern Gründungen, sind | |
| Anlaufstelle.“ | |
| ## Mehr als billiger Büroraum | |
| Dass Cowork auf dem Land mehr ist als billiger Büroraum, betonen alle, die | |
| mit dem Thema zu tun haben, angefangen von einer Broschüre des | |
| Bundesministeriums für Landwirtschaft bis hin zu den Aktiven vor Ort. Immer | |
| wieder fallen dieselben Begriffe: Austausch, Gruppen zusammenführen, | |
| Vernetzung. Nicole Dau berichtet von Büros, in denen Handwerker*innen | |
| auf Pilzfachleute und Schauspieler*innen auf Fotograf*innen stoßen | |
| und wo sich aus der Mischung neue Ideen entwickeln, für die Beteiligten und | |
| für die Gemeinden. Als „Mini-Gründerzentren“ beschreibt Lietzau die | |
| Coworking-Spaces. Ulrike Münzberg-Niemann sagt: „Wir bieten Raum zum | |
| Rumspinnen.“ | |
| Zurzeit entstehen neue Varianten. Eine ist „Coworkation“, kurz für Cowork | |
| und Vacation, eine Kombination aus Arbeit und Ferien. Coworkation-Spaces | |
| bieten auch Übernachtungsplätze und liegen meist an idyllischen Orten mit | |
| See oder Bergen vor dem Fenster. | |
| Vor den Fenstern des Torf-Hub in Kastorf rankt Efeu, im Großraumbüro stehen | |
| Pflanzen, die im Sommer auf die Terrasse gestellt werden. Das Dorf ist von | |
| Feldern umgeben, aber ein Urlaubs-Hotspot sieht anders aus. Wer sich hier | |
| einmietet, will arbeiten. | |
| Für die Nutzer*innen muss das Büro vor allem funktionieren: schnelles | |
| Netz, ausreichend Kaffee für die Maschine. „Wir fühlen uns wohl“, sagt | |
| Julia, die sich mit ihrem Mann einen Schreibtisch teilt. Das Ehepaar wohnt | |
| ein paar Dörfer weiter, die Kinder besuchen eine Schule im nächsten Ort, | |
| der Torf-Hub liegt in der Mitte. Abwechselnd fahren beide die Kinder zur | |
| Schule, arbeiten im Torf-Hub und fahren nachmittags zurück nach Hause, das | |
| spart Zeit und Fahrten. „Die Produktivität ist anders, wenn man nicht nur | |
| zu Hause sitzt“, sagt IT-Expertin Julia. Es sei angenehm, mit anderen in | |
| einem Büro zu sitzen und auch mal nicht über die Arbeit zu reden. | |
| Felipe Nogueira, Geschäftsführer der IT-Firma Qiado, nennt einen einfachen | |
| Grund, warum er Coworking einem eigenen Büro vorzieht: „Ich will nicht | |
| selbst Klopapier einkaufen.“ Das sei ein Scherz, fügt er hinzu, aber | |
| dennoch: Er schätzt es, wenn andere ihm die Organisation abnehmen. Qiado | |
| hat sich an mehrere Standorte, darunter am Chiemsee und in Lissabon, in | |
| Coworking-Spaces eingemietet. In Kastorf besetzt die Firma zwei Räume. | |
| Aktuell aber braucht Qiado mehr Platz, als der Torf-Hub bieten kann. Zum | |
| ersten Mal wird Nogueira ein eigenes Büro mieten, vermutlich in Lübeck. | |
| Für Jule Lietzau und Florian Watzke bedeutet der Weggang von Qiado einen | |
| Mietverlust, doch beide sind entspannt: „Coworking steht immer für | |
| Flexibilität, für Wandel“, sagt Lietzau. „Es ist eben ein atmendes | |
| Netzwerk.“ | |
| Die Küche leert sich, die Menschen gehen an ihre Schreibtische zurück. Tom, | |
| der Mops, baut sich neben seinem Herrchen auf und macht klar, dass er an | |
| die Luft will. Ein Spaziergang durch die Felder: auch so ein Vorteil des | |
| Coworkings auf dem Land. | |
| 26 Feb 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.torfhub.de/ | |
| [2] https://kastorf.de/ | |
| [3] https://coworkland.de/de/genossenschaft | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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