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# taz.de -- Journalistisches Genre: Ode an die Kolumne
> Anders als beim Kommentar sind die Autoren und Autorinnen von Kolumnen
> frei zu zweifeln. Sie bringen sich privat ein und dürfen aus der Reihe
> tanzen.
Bild: Wladimir Putins politische Performance bei seinem Besuch des Armeeluftfah…
Von einer Kolumne darf man wohl erwarten, dass es dabei irgendwie
„persönlich“ zugeht. Sonst könnte man ja einfach einen Kommentar oder ein…
Essay anbieten. An einem Rand dieses journalistischen oder auch
metajournalistischen Genres sind die Kolumnen zu finden, die Einblick in
das tatsächliche oder fiktionale Privatleben der Autorinnen und Autoren
geben. Was es eben so an kulinarischen Erfahrungen, Stress mit Kindern oder
Kolleg*innen oder Abenteuern in der Partymeile gibt.
Das kann man mögen oder auch weniger. Es tut unterm Strich immerhin kaum
jemandem weh, wobei mein Mitgefühl den Familienmitgliedern gilt, die von
einem der ihren als Material für launige Alltagspointen missbraucht werden.
Am anderen Rand wird es gemein, unsachlich und beleidigend; die Kolumne als
mehr oder weniger kultivierte „[1][Hate Mail]“. Seit der Programmreform
kenne ich meinen ehemaligen Hausradiosender, den BR 2, nur noch vom
Ausschalten.
Im Übrigen protestiere ich im Namen meiner Enkelgeneration gegen die
Gleichsetzung von jung und doof. Na ja, auch so etwas kann man mögen oder
weniger. Besonders hilfreich ist es eigentlich für niemanden. Wie man mit
dem Persönlichen in der Thematik, in der Methodik oder im Stil umgeht, ist
indes nicht nur eine Frage der Haltung des Autors, sondern auch eine des
behandelten Objekts.
Darf ich, wenn ein [2][Markus Söder] aus China und Hintertupfing nur eher
peinliche Fotos von sich selber mitbringt und ein Osterei mit seinem
eigenen Konterfei im Internet versteigert, von einer narzisstisch gestörten
Person sprechen oder sicherheitshalber von schlechter Beratung bei der
politischen Selbstvermarktung? Wie persönlich darf man da werden, ohne sich
selbst der Arroganz und Schadenfreude zu überführen oder ohne das Recht
eines Menschen auf Eigenart und „Authentizität“ zu verletzen?
## Persönliches aufdecken
Und umgekehrt: Wird nicht die Geschichte eines Tages urteilen über die
Unfähigkeit einer Kritik, die charakterlichen und geistigen Defizite von
Menschen erkannt und erklärt zu haben, die an den Schaltstellen der Macht
sitzen? Darf, soll, muss man nicht fragen, was sich hinter den Masken der
Macht und der medialen Clownerie verbirgt, nicht nur an Interessen oder
Ideologien, sondern eben auch an „Persönlichem“?
Erich Fromm hat einst den Begriff einer „politischen Psychologie“ in die
Debatte eingeführt, und von der anderen Seite her hat Lloyd DeMause eine
Methode der „[3][Fantasy Analysis]“ vorgeschlagen, in der er zum Beispiel
die Reden und Gesten von Politikerinnen und Politikern auf ihren
emotionalen und bildhaften Kern untersuchte.
Man kann solche „psychohistorischen“ Untersuchungen auf die Vergangenheit
anwenden, um von ihr zu lernen (für uns ist da wohl immer noch Klaus
Theweleits Untersuchungen der vorfaschistischen „[4][Männerphantasien]“
musterhaft), aber mit einer gewissen Risikobereitschaft lässt sich dabei
sogar ein gewisses prognostisches Potenzial erarbeiten.
DeMause hat das ziemlich überzeugend anhand einer Häufung von Begriffen wie
„Opfer“ und „Blut“ in den Reden von Ronald Reagan als Ausdruck einer
latenten Kriegsbereitschaft nachgewiesen, die sich dann prompt und übrigens
wider alle Vernunft „entladen“ musste. Überdies beschrieb er anhand der
„offiziellen“ Mitteilung aus dem Weißen Haus, im Juni 1986, es sei nun
„bekannt“, dass Muammar al-Gaddafi homosexuell sei, einen der vielen
Kurzschlüsse zwischen persönlicher Obsession und politischem – und
schließlich militärischem – Handeln.
## Kein Verbot für Fernanalysen
Dürfen wir die Reden von Vertretern unserer besorgten Rechten mit den
Mitteln der Fantasy Analysis untersuchen? Diese Litaneien von dem, was „weg
muss“, was man „sich wieder zurückholen“ will, von der „Umvolkung“ u…
„Vergiftung“, als kaum maskierte Mischungen aus Kastrationsängsten und
Mordfantasien erkennen, oder dürfen wir, andersherum, aus Donald Trumps
persönlichem Fehlverhalten auf die Schreckensherrschaft schließen, die
womöglich mit seinem Wahlsieg beginnt?
Das theoretische Verbot der Ferndiagnose wurde von [5][Harry Siegal],
Professor für Psychologie an der Cornell-Universität, unlängst beherzt
überschritten, als er in Donald Trump als „mentally challenged“
bezeichnete, was frei übersetzt: geistig verwirrt bedeutet, und Symptome an
ihm beschrieb, die dem „Anfangsstadium einer Demenz“ entsprechen.
Das klingt, selbst wenn man für Trump keine Sympathien hegt, ziemlich
übergriffig. Wer möchte schon wegen einer kleinen Wortfindungsschwäche,
einer derben Bildungslücke oder gar wegen eines an Alzheimer erkrankten
Vaters öffentlich so „behandelt“ werden? Doch auf der anderen Seite: Wer
möchte von einem Menschen beherrscht werden, der nicht einmal mehr sein
eigenes Gehirnkästchen in Ordnung halten kann?
Leider gibt es für das Eindringen in die Schnittflächen zwischen
Psychologie und Politik, zwischen dem Persönlichen und dem Öffentlichen,
keine verbindlichen Regeln. Die Sache steckt voller Tücken und Fallen. Und
damit sind wir wieder bei der Textsorte Kolumne, die ihren Autorinnen und
Autoren Freiheiten gibt, die anderswo mit guten Gründen nicht gewährt
werden.
## Rein ins wilde Feld
Denn nur in ihr kann ich bekennen, dass ich an einem Thema auch scheitern
kann, dass am Ende einer Überlegung weder eine „Meinung“ noch eine
„Überzeugung“ steht, etwa was die Notwendigkeit oder das Tabu von
politischer Psychologie, Ferndiagnostik und Fantasy Analysis anbelangt,
wohl aber eine „Haltung“: Man darf sich vor dem Problem nicht drücken. Man
muss hinein in dieses wilde Feld zwischen dem Persönlichen und dem
Politischen, aber man macht es auf eigene Verantwortung und auf eigenes
Risiko.
Den Autokraten dieser Welt persönliche Psychosen zu unterstellen, ist
gefährlich. Aber noch gefährlicher ist es, das Psychotische in ihrer
politischen Performance zu verdrängen. Dies sagen zu können, habe ich der
Textsorte Kolumne zu verdanken.
10 Apr 2024
## LINKS
[1] /Studie-zu-Hass-im-Netz/!5989006
[2] /Markus-Soeder-im-Wahlkampf/!5947595
[3] https://sei-fert.de/phantasy-analysis.pdf
[4] /Klaus-Theweleits-Maennerphantasien/!5614242
[5] https://www.youtube.com/watch?v=tTzku-Fvm9c
## AUTOREN
Georg Seeßlen
## TAGS
Schlagloch
Kritik
Rechter Populismus
Macht
Schwerpunkt Stadtland
Donald Trump
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