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# taz.de -- Ein Leben nach Fahrplan: Früher war alles schlimmer
> Wer umzieht, lässt immer auch etwas zurück. Das kann man dann vermissen.
> Manchmal aber zeigt sich nur, wie dämlich man mal war, meint unser
> Kolumnist.
Bild: Jetzt ist es natürlich blöd, wenn das die letzte Bahn war und man zurü…
Was ich an der Großstadt am meisten vermissen würde, hat mich eine Freundin
neulich gefragt, und beinahe hätte ich „Mittagstisch“ gesagt. Das ist ja
auch eine gute Sache: schnell, praktisch, kommunikativ, abwechslungsreich
und so weiter.
Nur ist das mit dem Vermissen natürlich Quatsch, weil es hier draußen auf
dem Land so was erstens theoretisch auch gäbe und ich [1][seit dem Umzug]
zweitens eher mehr als weniger auswärts esse. Außerdem ist „vermissen“ ein
sehr großes Wort, und es kommt mir doch arg bescheuert vor, sein Herz an
Falafel, Pizza oder Phô zu hängen.
Was mir hingegen wirklich fehlt, ist abends unterwegs zu sein, ohne ständig
auf die Uhr zu gucken. Der letzte Zug ist das Maß der Dinge, neulich ging
es sogar – noch banaler – darum, wann zu Hause die Straßenlaternen
ausgehen, weil ich Sorge hatte, mit meinem ohnehin lädierten Fuß durchs
Dunkel zu stolpern.
Und wie dunkel es hier draußen wird, kann sich nicht vorstellen, wer’s noch
nicht erlebt hat. Na ja, meine eigentlich ausgeprägte Wanderlust ist
jedenfalls gekappt durch die Abfahrtszeit der letzten Bahn, und das ärgert
mich manchmal schon.
Komisch, dass mich das Thema nach all den Jahren wieder so beschäftigt.
Vielleicht, weil der Fuß immer noch kaputt ist und ich gerade sogar noch
deutlich hinter den Möglichkeiten meiner nahverkehrsmäßig beeinträchtigten
Homezone zurückbleibe. Oder aber, weil das Fußläufige zurzeit so sinnlos
scheint. Draußen ist es nass und scheiße. Und anders als in der Stadt
fahren die meisten hier ausschließlich mit dem Auto, so dass man höchstens
im Supermarkt mal jemandem begegnet.
## Ein Teil des Soziallebens
Von wegen anonyme Großstadt: Ich glaube, ich treffe bei jedem Spaziergang
durchs Bremer Viertel oder die Hamburger Sternschanze mehr Bekannte als in
meinen Nachbarstraßen. Das ist nicht ganz sauber gerechnet, weil meine
Stadtwege in der Regel viel länger sind, aber trotzdem ist schon wahr, dass
ein nicht ganz unwesentlicher Teil meines Soziallebens damals eben nicht
mit umgezogen ist.
Ob ich darüber traurig bin, weiß ich selbst nicht so genau. Manchmal ja.
Und an anderen Tagen tritt stattdessen überdeutlich hervor, wie dämlich im
Grunde ist, was da verloren ging. Der Sinneswandel liegt ja nicht nur am
Umzug, sondern auch an den Kindern, an der Arbeit – daran, dass heute
einfach ständig dringende Sachen anliegen, die mir viel wichtiger sind, als
in irgendeiner Scheißkneipe bei schlechter Musik noch schlechteres Bier zu
trinken.
Zwei- bis dreimal pro Woche schlägt Google mir Texte darüber vor, warum
Männer ab 40 erstens ihre alten Freunde verlieren und zweitens keine neuen
finden. Ich weiß nicht, warum ich so was immer wieder bekomme. Anklicken
oder gar Lesen tu ich’s jedenfalls nicht. Ich kenne die Antworten nämlich
schon.
Es ist ein tragikomischer Zustand, den gerade „alternative“, „linke“ od…
andere (ehemalige) Nonkonformist:innen teilen: dass sie nostalgisch
einer Welt verhaftet sind, die sie im Grunde schon nicht leiden konnten,
als es sie noch gab. Mit manchen dieser Leute gehe ich ab und zu noch raus
– und dann werden sie zuverlässig sauer und beleidigend, wenn und weil ich
zum Zug muss. Andere haben offenbar diese Texte für 40-jährige Männer bis
zu den Tipps gelesen und versuchen nun nachdrücklich, eine Art
Freizeitregime zu errichten, das reibungslos in Familienkalender passt. Und
drittens gibt’s noch solche, die weder einfordern noch einladen, sondern
selbstmitleidig hoffen, dass bald alles wieder wie früher wird. Wer alles
drei vermeidet, kann sich glücklich schätzen. Ich glaub nur nicht, dass es
geht.
18 Nov 2024
## LINKS
[1] /Umzug-von-der-Stadt-aufs-Land/!5803934
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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