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# taz.de -- Die Schrecken der Quantifizierung: Warum eine Pizza besser ist als …
> Wo man essen soll? Quälend viele Empfehlungen sagen es. Unser Kolumnist
> empfiehlt, Rankings gegenüber misstrauisch zu sein.
Bild: Das neue Mit-den-Fingern-essen: Vom Teller gleich ins Netz
Ich glaube, es war in Hameln, wo mich vor einigen Jahren die Suche nach
einer Eisdiele in den Wahnsinn trieb. Nicht weil das per se schwierig
gewesen wäre: Gefunden hatten wir ja längst welche. Direkt am Marktplatz,
auf dem wir zu viert auf drei navigierende Handys starrten, gab es zwei –
laut Internet aber irgendwo anders eben noch eine dritte mit besseren
Bewertungen auf Tripadvisor.
Wobei: Ich bin nicht mehr sicher, ob es damals wirklich um Tripadvisor
ging, und ehrlich gesagt würde ich nicht mal für Hameln die Hand ins Feuer
legen. Wir könnten auch in Rothenburg gewesen sein oder irgendwo im Harz.
Keine Zweifel habe ich hingegen daran, dass es beim „besseren“ Eis um
Nachkommastellen einer Durchschnittsbewertung ging. Und genauso sicher bin
ich, dass ich brutalst genervt von dem Argument war.
Diese Geschichte aus Hameln oder Quedlinburg wiederholt sich in ähnlicher
Form seither in steigender Schlagzahl. Mal geht es um die Wahl eines
Pizzadienstes auf Lieferando, dann um die Nützlichkeit des
[1][Wahl-O-Maten], immer wieder auch um numerische Produktrezensionen im
Onlinekaufhaus. Ja, selbst auf der Arbeit wird sich zunehmend auf
Klickzahlen zurückgezogen, denen man weite Teile der Realität abschabt – so
wie es andere Geisterseher schon vor ein paar tausend Jahren mit dem
Fleisch von Opfertieren taten, um im Gedärm nach handfesten Prognosen über
die Zukunft zu wühlen.
Was die Zahlen versprechen: objektive Urteile statt geschmäcklerischen
Findens und Meinens. Das klingt nach Vernunft, ist aber Quatsch. Nicht nur
[2][wegen der Manipulierbarkeit] durch Freunde, Verwandte oder Bots der
Beurteilten, sondern vor allem auch, weil man eben alles abschneidet, was
komplizierter ist als Zahlen zwischen eins und fünf: das also, worüber man
nachdenken und zu dem man sich verhalten muss. Quantifizierung ist kein
Triumph des kritischen Denkens, sondern seine Abschaffung. Echt jetzt!
## Die Breite des Angebots
Was hat das nun aber mit der körperlichen und geistigen Pendelei zwischen
Dorf und Stadt zu tun, von der diese Kolumne [3][ja eigentlich handelt?] Es
geht um die Breite des Angebots. Mein Zuhause wird von – immerhin! – vier
verschiedenen Pizzadiensten angefahren, deren Personal man vom Fußball
kennt oder aus der Schule. Schon der Menge wegen käme nicht mal Besuch aus
der Großstadt auf die Idee, sie online nach Bewertung zu sortieren.
Stattdessen guckt man eben die Angebote durch – und wenn man in wenigen
Tagen alle ausprobiert hat, verlässt man sich halt auf (manchmal
schmerzhaft) gemachte Erfahrung.
In Metropolen oder touristisch erschlossenen Regionen ist das natürlich was
anderes. Da kann man nicht alles essen, selbst wenn man wollte – selbst mit
der Lektüre ausformulierter Gastrokritiken aller Berliner Dönerläden könnte
man ein bis zwei Leben verbringen.
Bevor hier Missverständnisse aufkommen: Im verkümmerten kulinarischen
Angebot des Dorfes schlummert kein Heilsversprechen. Die Welt wird nicht
besser, wenn sie ärmer ist, sondern langweiliger. Und vielleicht – ganz
vielleicht – ist die pseudoobjektiv verkürzte Weltwahrnehmung sogar besser,
als überhaupt nichts zu gucken zu haben.
Aber die Einöde hilft doch dabei, ein gesundes Misstrauen gegenüber der
gezählten und gerankten Wirklichkeit zu bewahren. Und die ist ein Problem,
weit über dank irreführender Wertungen verpasste Pizzen und Ferienwohnungen
hinaus. Wer die Zahl zur Lebensgrundlage erklärt, macht das Leben zum Kampf
um die Zahl. Und dann ist es irgendwann auch wirklich egal, ob das nun in
Rothenburg, Hameln oder Quedlinburg passiert.
26 Feb 2025
## LINKS
[1] https://www.wahl-o-mat.de/
[2] https://www.datenschutz.org/fake-bewertung/
[3] /Umzug-von-der-Stadt-aufs-Land/!5803934
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
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