| # taz.de -- Umzug von der Stadt aufs Land: Geistige Mülltrennung | |
| > Was bedeutet es, von der Großstadt aufs Land zu flüchten – ins Nichts | |
| > sozusagen? Über ein Lebensexperiment mit offenem Ausgang. | |
| Bild: Was bleibt übrig, wenn die Großstadt fern ist? Landszene aus dem Bremer… | |
| Über die Sache mit meinem neuen Landleben gibt es zwei Erzählungen. | |
| Meistens halte ich mich an diese hier: Es war unterm Strich billiger, die | |
| winzige Stadtwohnung gegen ein mittelgroßes Haus mit riesigem Garten | |
| einzutauschen, und der Weg zur Arbeit ist auch viel kürzer, als man meinen | |
| könnte. | |
| Aber obwohl ich diesen Satz routiniert abspulen und ausschmücken kann, ging | |
| es beim Auswandern an den Acker nie ums Geld – und ehrlich gesagt auch gar | |
| nicht so sehr um mehr Platz für die Kinder. Es war eher der Versuch einer | |
| geistigen Mülltrennung, also Lohnarbeit und Kulturbetrieb abzuspalten, | |
| beides weit weg in der Großstadt zu lassen, um draußen an der frischen Luft | |
| später rauszufinden, was dann übrig bleibt: das Leben vielleicht? Und was | |
| das eigentlich heißen soll. | |
| Dass ich die schwülstige Variante meist für mich behalte, liegt daran, dass | |
| sie mir natürlich peinlich ist. Immerhin heißt die verlassene Metropole | |
| Bremen und hatte immer schon eine gewaltige Schlagseite zum Dorf. Na ja, | |
| und so wahnsinnig originell war die Idee dann ja auch gar nicht, wie die | |
| Horden von Pendler:innen beweisen, die jeden Morgen an Gleis 1 in die | |
| Stadt fahren und nachmittags am zweiten Bahnsteig zurückkommen. | |
| Engere Kontakte hab ich vermieden und sie trotzdem alle auch ohne | |
| Handschlag kennengelernt: „Bananas“, der sein Fahrrad erst abschließt, wenn | |
| der Zug schon einrollt, „Edel“ mit seinen sechs Sakkos, „Grishnákh“ und | |
| sein Telefon, über das er seine Angestellten jeden Morgen sonderbar | |
| gönnerhaft anpöbelt. Und natürlich „Strumpf“, die ihre Ausbildung zur | |
| Irgendwas richtig scheiße findet und damit wohl auch recht hat, nach allem, | |
| was man so hört. | |
| Vorläufig gescheitert ist mein Lebensexperiment aber nicht an den | |
| Mitreisenden, sondern wegen Corona: weil die Lohnarbeit doch schneller | |
| nachgezogen kam, als einem lieb sein kann. Die Oase wurde zum Homeoffice, | |
| die fußläufig gelegene Grundschule geschlossen – und plötzlich ist es auch | |
| hier draußen sehr eng. Nur ging das ja allen so und war in der Stadt noch | |
| viel schlimmer. Das weiß ich auch. Selbst mit den Einschränkungen ließ es | |
| sich aushalten, seit der Landrat erst die Spargelsklav:innen des | |
| Nachbardorfs aus der Inzidenz des Kreises hatte rausrechnen lassen. | |
| ## Mit Grishnákh in den Hexenkessel | |
| Ich komme überhaupt nur auf Corona, weil der Moment so greifbar war, als | |
| der Horror immerhin emotional verebbte: ein Stromausfall am Nachmittag, ein | |
| schwarzer Bildschirm, wo eben noch vier Seiten taz vor sich hin flimmerten, | |
| die so langsam doch fertig werden und zur Druckerei müssten. Das | |
| Festnetztelefon bleibt stumm, der Akku des mobilen ist fast leer – und | |
| findet hier eh kaum Netz. | |
| Also zum Bahnhof, wo zunächst auch nichts passiert, weil die Signale erst | |
| wieder leuchten müssen. Doch in knapp 20 Minuten gerät der über eineinhalb | |
| Jahre ausgesetzte Prozess der Zivilisation wortwörtlich wieder aufs Gleis: | |
| Bananas rast schlecht rasiert heran, Edel in Shorts – zusammen wieder rein | |
| in den Bremer Hexenkessel. Die Wut auf den örtlichen Stromanbieter ist | |
| schnell ausgetauscht und weicht jenen belanglosen Gesprächen, die zwar | |
| nerven – von denen man sich aber auch hätte weiter wegsetzen können, wer es | |
| ehrlich meint mit der Ignoranz. | |
| Sie wollen jetzt wieder öfter fahren, beschließen sie, wenn die Firmen | |
| mitmachen. Betont beiläufig erkundige ich mich nach den anderen und weiß | |
| nun: Grishnákh ist Vater geworden und Strumpf wohl krank – zum Glück aber | |
| nichts Ernstes. Sie ist sonderbar aufbauend, diese Fahrt. Und sie lässt – | |
| so von wegen schwülstig – die Hoffnung aufkeimen, dass es doch noch | |
| losgehen könnte: das Nichts auf dem Land. | |
| 10 Oct 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
| ## TAGS | |
| Stadt-Land-Gefälle | |
| Homeoffice | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Kolumne Speckgürtelpunks | |
| Öffentlicher Nahverkehr | |
| Kolumne Speckgürtelpunks | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Urbanität | |
| Kolumne Speckgürtelpunks | |
| Volkswirtschaft | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Kolumne Speckgürtelpunks | |
| Landleben | |
| Kolumne Speckgürtelpunks | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Raus aus Social Media: Offline am Acker | |
| Der Abschied von Facebook, Instagram und so weiter fällt unserem | |
| Kolumnisten nicht leicht. Zumal er damit den letzten Rest urbanen Lebens | |
| abserviert. | |
| Zurück aus der Hauptstadt: Berlin, die Stadt des Mangels | |
| Endlich ist unser Autor wieder umgeben von Dohlen und Dorfgaragen. Nachdem | |
| er sich in Berlin den Rest seines Hasses auf die Stadt abgeholt hat. | |
| Isolation auf dem Land: Endzeit in Gummistiefeln | |
| Die Schönheit des Landlebens nimmt schon ab, wenn man wegen Hochwasser, | |
| Bahnstreik und Treckerdemos nicht mehr weg kommt. Eine Kolumne im | |
| Lagerkoller. | |
| Urbane Orte auf dem Land: An den Trommeln | |
| Waschsalons sind die urbansten Orte, die man sich nur vorstellen kann, | |
| findet unser Autor. Selbst wenn sie irgendwo draußen im Speckgürtel stehen. | |
| Von der Polizei geweckt: Blaues Licht zur blauen Stunde | |
| Niemand wird gerne geweckt. Besonders nicht von einer Handvoll Beamter. | |
| Selbst dann nicht, wenn man zur Abwechslung kein Verbrechen begangen haben | |
| soll. | |
| Antizyklische Wirtschaftswissenschaften: Hart am Wind gilt Lee vor Luv | |
| Wirtschaftswissenschaftler sind stolz auf ihr antizyklisches Ding. Doch auf | |
| dem Land ist das überhaupt nichts Neues. | |
| Die Barbarei des flachen Landes: Eine Zugfahrt, die ist lustig | |
| Bedroht zu werden ist nie schön. Aber es macht doch einen Unterschied, ob | |
| man nur kurz in der U-Bahn aneinander kracht – oder im gleichen Kaff wohnt. | |
| Linksradikale Hauswirtschaftler: Die fetten Jahre sind vorbei | |
| In der Krise heißt es, Gürtel enger zu stellen, oder wenigstens das Geld | |
| gelegentlich mal zu zählen. Das bringt mitunter ungeahnte Erkenntnisse | |
| hervor. | |
| Projekte im ländlichen Raum: Gut leben auf dem Land | |
| Das Magazin „Land“ stellt Projekte für das gute Leben auf dem Land vor. Es | |
| geht dabei um die harte Arbeit und die Menschen hinter den Projekten. | |
| Brauchtum in Seuchenzeiten: Zombies vor dem Tor | |
| Quarantäne wird nicht einfacher, wenn die Außenwelt zum Spuken vorbei | |
| kommt. Bleibt nur, die eingeübte Isolation auf die Spitze zu treiben. |