| # taz.de -- Only Good News Are Good News!: Kandierte Anekdoten der Empathie | |
| > 2022 war fürchterlich. Deshalb serviert unser Autor zum Jahresende | |
| > herzerwärmende Sonderposten. Dem Alltag auf Berlins Straßen entsprungen. | |
| Bild: Manchmal fährt der Weihnachtsmann (okay: nur ein verkleideter Fahrer) de… | |
| Soll doch niemand sagen, dieses Jahr wäre großer Bockmist gewesen, | |
| kuratiert von einem sadistischen Menschenfeind. Wenigstens nicht hier und | |
| heute an dieser Stelle. [1][Bobsens Späti] schließt sein Jahr deshalb mit | |
| einem Regal voller herzerwärmender Sonderposten. Only good news are good | |
| news! | |
| Also, liebe Leute, tretet näher, vergesst die selbstgedrehten Fluppen, die | |
| OCBs und den Sprit. Labt Euch so kurz vor Weihnachten an kandierten | |
| Anekdoten der Empathie. Dem Alltag auf Berlins Straßen entsprungen, zur | |
| Realität geronnene Nächstenliebe. Schlagen wir dem Darth Vader unter den | |
| Kalenderjahren ein unvergessliches Schnippchen. | |
| Da war dieser Obdachlose, er lag in seinem Schlafsack am Alex, hatte eine | |
| leere Bierflasche vor sich, eine volle in der Hand. Kaputt sah er aus. Zwei | |
| Typen jagten Pfandgut hinterher, einer der beiden blieb vor ihm stehen, | |
| fragte nach der leeren Flasche. Ich hielt das für eine verrückte Idee, war | |
| mir sicher, der Obdachlose würde ihm den Vogel zeigen, aber er nickte ihm | |
| freundlich zu. Der Sammler dankte und erwiderte ähnlich freundlich, ob es | |
| ihm denn gut gehe. „Du gut, ich gut, alles gut, mein Freund“, antwortete | |
| der Spender mit einem osteuropäischen Akzent. Und es klang gar nicht mal so | |
| sarkastisch, wie es die Situation eigentlich hergab. | |
| Oder die Fahrt mit dem Ersatzverkehr der S-Bahn. Ich saß wenige Meter | |
| hinter dem Busfahrer. Sichtlich verunsichert flüsterte er bereits vor dem | |
| Start verzweifelte Laute vor sich hin. Allem Anschein nach war ihm die | |
| Gegend genauso fremd wie mir. Wenige Ampeln später wurde meine Ahnung zur | |
| Gewissheit, er kannte den Weg nicht. Er hielt an, fragte mich und einen | |
| weiteren Fahrgast verschämt nach der Route zum [2][S-Bahnhof Priesterweg]. | |
| Mitfühlend mussten wir abwinken. Beinahe gab es keinen Unterschied mehr | |
| zwischen seinen Lauten und dem Ächzen und Stöhnen der Bushydraulik. | |
| ## Das Lächeln des Fahrers | |
| Dann nahmen die Dinge ihren Lauf. Ein Fahrgast nach dem anderen stellte | |
| sich an seine Seite und wies ihm geduldig den Weg durchs kalte Steglitzer | |
| Dunkel. Sobald jemand der Lots:innen ausstieg, folgte die nächste | |
| helfende Stimme. Als niemand mehr aus dem vorderen Bereich nachrückte, bat | |
| der Fahrer übers Mikro um Hilfe. Noch eh sein Aufruf endete, rief jemand | |
| von weiter hinten: „Ruhig, Junge. Ick komm doch schon, kann ja nich | |
| fliegen!“ – Humpelnd näherte sich eine ältere Dame. Beim Aussteigen sah i… | |
| hinter der Frontscheibe das Lächeln des Fahrers. Ich bin mir sicher, es | |
| hielt bis zur Endstation. | |
| Den Vogel schoss aber dieser Typ beim Inder in der [3][Simon-Dach-Straße] | |
| ab. Zugegeben, ein eher ungewöhnlicher Kiez für Einheimische. Es war einer | |
| der ersten kalten Herbstabende, zwischen frittierten Bhaturas und frisch | |
| aufgegossenem Yogitee herrschte drinnen flauschige Wärme. Irgendwann | |
| drückte die Blase. | |
| Schon auf dem Weg zum WC traute ich meinen Ohren nicht. Mit jedem Schritt | |
| in Richtung Herrentoilette wurde das Geräusch lauter. Dort angekommen, | |
| erschloss sich mir seine Quelle. Sie lag vor mir in der Klokabine. Kaum zu | |
| glauben, zusammengerollt in glückseliger Embryonalstellung schlief da ein | |
| ausgewachsener Typ in voller Montur und schnarchte halb Friedrichshain | |
| zusammen. Fehlte nur, dass er an seinem Daumen lutschte. | |
| Ein Junkie oder Alki? Nein! Zusammengebrochen beim Geschäft? Nö! Obdachlos? | |
| Nee! Wie sich herausstellte, hatten ihn die Angestellten tatsächlich drei | |
| volle Stunden lang schlummern lassen. Sie wollten ihn nicht stören – und | |
| offenbar musste kein Gast währenddessen auf die Sitzkeramik. Als wir gerade | |
| zahlten, kam er raus, wirkte erstaunlich fit, lief kerzengerade nach vorne, | |
| wo er sich am Tresen kurz unterhielt, und sich dann freundlich | |
| verabschiedete. | |
| Schöne Feiertage! | |
| 19 Dec 2022 | |
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| [1] /Solidaritaet-mit-Protestierenden-in-Iran/!5891799 | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnhof_Berlin_Priesterweg | |
| [3] /Queere-Bars-in-Berlin/!5685434 | |
| ## AUTOREN | |
| Bobby Rafiq | |
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