| # taz.de -- Der Herbst, die Stadt und der Müll: Die Pappe als Problemfall | |
| > Am Altpapiercontainer kann man oft ins Grübeln geraten über die | |
| > Gesellschaft. Aber noch ist Hoffnung: Die meisten Leute falten ihre | |
| > Kartons. | |
| Bild: Passt schon irgendwie, oder? | |
| Meine Stimmung ist nicht gut, das liegt an den Nachrichten, aber ich habe | |
| deswegen auch ein schlechtes Gewissen, denn was bedeutet es schon, sich | |
| wegen der Nachrichten schlecht zu fühlen, die vor allen Dingen Menschen | |
| betreffen, denen es deshalb schlecht geht, weil die Nachrichten von ihnen | |
| selbst handeln? Also sage ich mir, Katrin, reiß dich zusammen und heule | |
| nicht rum! Diese Menschen wären froh, wenn sie ein Leben wie deines führen | |
| könnten, ein Leben, das vor allem durch Nachrichten beschwert ist. Und | |
| deshalb sehe ich es als Aufgabe, dem Leben etwas abzugewinnen. | |
| In den Nächten regnet es, am Morgen sind die Straßen nass und voller gelber | |
| Blätter, die Bäume im Innenhof werden immer nackter, ich schalte die | |
| Heizung an. Ein Teil von mir fühlt sich tatsächlich gemütlich. | |
| Als ich das Altpapier in den Hof bringe, steckt ein großer Karton in der | |
| Öffnung des Containers. Mit einer Ecke wurde er hineingedrückt, der | |
| Großteil guckt noch raus. | |
| Auf dem Karton steht die Adresse einer Jessica X. Ich halte diesen Karton | |
| dieser Jessica, die offensichtlich ihr Zeug bei diesem großen A bestellt, | |
| in der Hand und schnaube. Was stimmt mit ihr nicht? | |
| Ich halte den Karton in der Hand und überlege, ihn ihr vor die Tür zu | |
| stellen. Ich überlege, bei ihr zu klingeln und ihr diesen Karton persönlich | |
| zu überreichen. Was hat sie sich gedacht: Dass der nächste Mensch, also | |
| ich, dieses Problem lösen soll? Dass es schon okay ist, ihre Müllprobleme | |
| auf andere Menschen abzuwälzen? Dass sie auf uns, auf mich einfach scheißen | |
| kann? | |
| ## Vor allem an sich denken | |
| Natürlich klingele ich nicht bei dieser Jessica. Ich zerlege den Karton, | |
| falte ihn zusammen und stecke ihn durch die Öffnung. Ich lebe in einer | |
| Großstadt. Regelmäßig liegen auch fleckige Matratzen vor den | |
| Müllcontainern, leere Flaschen, Sperrmüll. Irgendetwas hat diese Leute | |
| gelehrt, auf andere, auf mich zu scheißen. Irgendetwas hat sie gelehrt, vor | |
| allem an sich zu denken. Man kann nicht jedes Mal Herzrasen deswegen | |
| bekommen, das ist nicht gesund. | |
| An Halloween gab es in Hamburg, in diesen sogenannten „sozialen | |
| Brennpunkten“, mal wieder ein bisschen Randale. Junge Männer brüllten rum, | |
| spielten sich auf, machten was kaputt. Im NDR wurde dazu der | |
| Polizeiwissenschaftler Rafael Behr interviewt. Er sagte, es wäre eine | |
| Möglichkeit für diese Menschen, sich als „selbstwirksam“ erfahren zu | |
| können, vielleicht ihre einzige. Ein junger Mann drückte es im Interview | |
| einfacher aus: „Die Leute denken, (…), das ist mein Verdienst, ich kann | |
| zeigen: Ja, guck, siehst du das? Das war ich.“ | |
| Vielleicht wird in diesen beiden Geschichten eine Überzeugung sichtbar: Die | |
| Gesellschaft ist keine Gemeinschaft. Und wenn, dann gehöre ich nicht dazu. | |
| Dass sich diese Art von Trotz vor allem gegen sie selbst richtet, dass sie | |
| das Leben in ihrer eigenen Hood beschädigen, ist tragisch, es ist, im | |
| Grunde, eine Form von Selbstverletzung. Nur von diesem theoretischen | |
| Überbau herabblickend kann ich auch mit Jessica nachsichtig sein. Weil sie | |
| rücksichtslos ist, ist sie einsam, oder weil sie einsam ist, ist sie | |
| rücksichtslos? | |
| Wir leben in einem großen, kapitalistischen Märchen, das uns erzählt, dass | |
| der Held sich über alle Regeln hinwegsetzen muss, dass Erfolg hat, wer nur | |
| auf sich selbst hört, dass die Erfolgreiche ein Solitär ist. Das ist ein | |
| Fehler und eine Lüge. Erfolg muss anders definiert werden, in seinen | |
| Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Und ich habe noch Hoffnung. Die meisten | |
| Leute falten ihre Kartons. | |
| 14 Nov 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Zu verschenken | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| wochentaz | |
| Halloween | |
| Müll | |
| Ordnung | |
| Obdachlosigkeit | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Zeugen Jehovas | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Vermögensunterschiede zu Weihnachten: Wie in einem Charles-Dickens-Roman | |
| Es ist unattraktiv, mit dem Finger auf die Reichen zu zeigen. Doch ein | |
| Chorkonzert genügt, um die Realität deutlich zu machen. | |
| Über Brandenburg in diesem Herbst: Schon wieder die alte Scham | |
| Die deutsche Einheit ist für unsere Autorin – sie stammt aus Brandenburg – | |
| ein Geschenk gewesen. Aber jetzt hat sie einen üblen Geschmack bekommen. | |
| Aggression im öffentlichen Raum: Wutbürger am Fenster | |
| Rausgelassene Aggressionen können auch für Außenstehende beunruhigend sein. | |
| Unsere Kolumnistin sucht bislang erfolglos nach Wegen, damit umzugehen. | |
| Beim Bummeln durch die Stadt: Und dann begegnet man dem Hass | |
| Es ist nicht schön, wenn man auf der Straße grundlos angeschrien wird. Wenn | |
| jemand vor Wut spuckt. Und wenn man einfach weitergeht. |