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# taz.de -- Über Brandenburg in diesem Herbst: Schon wieder die alte Scham
> Die deutsche Einheit ist für unsere Autorin – sie stammt aus Brandenburg
> – ein Geschenk gewesen. Aber jetzt hat sie einen üblen Geschmack
> bekommen.
Bild: Momentaufnahme in Brandenburg: Frankfurt (Oder), an der Grenze zu Polen
Die Stadt versinkt im Herbst in sich selbst. Die Leute sind alle
zurückgekehrt, aus ihren Urlauben und ihren Gärten, weil die Gärten
verrotten und braun werden und weil sie sich langsam wieder nach etwas
sehnen, was sich wie Geselligkeit anfühlt. In meinem Umfeld sind Leute
plötzlich gestorben und andere schwer krank geworden und das ist nicht
einfach auszuhalten. Jeden Morgen sehe ich mir die Instagram-Beiträge der
[1][Letzten Generation] an und werde rasend.
Aber das nützt niemandem, das bringt uns nicht weiter. Mich bringt es nicht
weiter, meinen Roman, die Welt, die Letzte Generation. Die können von
meinem Rasen nicht profitieren. Ich spende ihnen also und fühle mich
deshalb nicht einen Deut besser. Selbstmitleid ist keine Lösung.
Weinerlichkeit und Sentimentalität ist nicht ein bisschen konstruktiv. Ich
schenke den Dingen meine Aufmerksamkeit, aber die Dinge können damit nichts
anfangen.
Dienstag war der [2][Tag der Deutschen Einheit] und das betrifft mich sehr.
Ohne die deutsche Einheit wäre ich nicht hier, in diesem Teil des Landes,
hätte ich meine Freund*innen nicht, würde ich diese Kolumne nicht
schreiben. Die deutsche Einheit ist für mich ein Geschenk gewesen, aber
jetzt hat sie einen üblen Geschmack bekommen, jetzt habe ich schon wieder
die alte Scham, wenn ich sage: „Ich komme aus dem Osten.“
Ich wohne nun schon länger im sogenannten Westen als im sogenannten Osten,
aber dennoch komme ich für immer da her, aus dem „Osten“, aus Brandenburg,
das damals gar nicht Brandenburg hieß, sondern „Bezirk Frankfurt Oder“, und
auch ganz andere Grenzen hatte.
## Freund*innen schämen sich
Damals war das auch egal, aber heute heißt das, ich komme aus einem Land,
in dem [3][die AfD viele Anhänger] hat, und dafür schäme ich mich. Meine
brandenburgischen Freund*innen schämen sich, obwohl sie für die Haltung
ihrer Mitmenschen gar nichts können und sehr darunter leiden. Obwohl sich
eine große Bitterkeit in ihnen breitmacht, weil sie nicht mehr wissen, wie
sie ihre Heimat noch ihre Heimat nennen können. Und dann kommen wir, die
wir im sogenannten Westen wohnen und sagen, „ihr da, in Brandenburg!“
Ich war gerade in Brandenburg, auch dort war sehr es schön und herbstlich,
und ich schätze immer noch die Menschen im sogenannten Osten, weil sie ein
bisschen mehr so sind wie ich als die Menschen im sogenannten Westen. Das
hat was mit einem ähnlichen Aufwachsen zu tun. Es hat anscheinend dieses
Aufwachsen bei einigen zu einer rechtsradikalen Einstellung geführt, bei
anderen aber nicht.
All diese Dinge, die Toten, die Kranken, die Bitterkeit der
Brandenburger*innen, die nicht die AfD wählen, mein morgendliches,
nutzloses Rasen ist für mich Teil dieses Herbstes, der dennoch und immer
wieder schön ist. Wenn in der Nacht die Eicheln auf die Autodächer knallen,
wenn ich am Nachmittag durch die Große Bergstraße laufe, wo vor dem Denns
die Leute ganz vertraut mit der Frau schwatzen, die um Spenden für sich
selbst bittet, weil sie immer da steht, weil sie zu uns gehört.
Wenn die Kassiererin im Edeka zur anderen Kassiererin sagt, „Gib mir mal
zweihundert!“, und die andere Kassiererin reicht ihr einen Packen Geld
rüber, und ich sage, „Ich würd auch was nehmen“, und die Kassiererin
strahlt mich an, als würde sie mich lieben, und die alte, muslimische Frau
hinter mir strahlt mich auf die gleiche Weise an und wir alle strahlen uns
an, das ist meine Stadt, das ist mein Herbst, trotz alledem, und ich
möchte, in diesem Moment, sie alle beschützen.
7 Oct 2023
## LINKS
[1] /Razzia-gegen-Klimaaktivisten/!5964551
[2] /Gegendemo-zum-Einheitsfest-in-Hamburg/!5964378
[3] /Rechte-Demo-am-Tag-der-Deutschen-Einheit/!5961046
## AUTOREN
Katrin Seddig
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