| # taz.de -- Besuch aus der alten Heimat: In den Augen der anderen | |
| > Wenn Freunde da sind aus dem Dorf, aus dem man kommt, findet ein Abgleich | |
| > der Welten statt. Wie nehmen sie die Stadt wahr, in der man lebt? | |
| Bild: Anscheinend wird es Frühling: der Wohlerspark in Hamburg-Altona | |
| „Ist das vielleicht noch schlimmer geworden?“, fragen unsere Freunde und | |
| meinen das Elend auf den Straßen und ich fühle mich ein wenig gekränkt, | |
| warum? | |
| Wir haben Besuch aus meiner alten Heimat im Osten, sie haben Eier | |
| mitgebracht, von ihren eigenen Hühnern, ein kleines Dorf, östlich von | |
| Berlin, in der Gegend, wo ich aufgewachsen bin. Ich denke nicht, dass ich | |
| dieses Lebensgefühl vergessen werde, umgeben von Menschen zu leben, die man | |
| jeden Einzelnen kennt. Der Verdacht, dass heute nichts passieren wird, | |
| morgen nicht, übermorgen nicht, nie. Die Sehnsucht nach den großen Städten. | |
| Das ist alles sehr lange her und hat mit Jugend und Aufbruch zu tun. | |
| Wir gehen mit unserem Besuch ins Hamam (es ist so herrlich!), ein Ausflug | |
| in eine andere Welt, aber es ist keine andere Welt, sondern Teil unserer | |
| Welt, wie der türkische Gemüseladen, das libanesische Restaurant, der | |
| Afroshop, die Shishabar, das schwedische Café, der muslimische Brautladen, | |
| die serbische Kirche – ohne all das wäre die Großstadt keine Großstadt, | |
| sondern nur ein sehr großes und langweiliges Dorf. | |
| Wir besuchen das Konzert eines Freundes in St. Georg, essen vorher in der | |
| Langen Reihe vietnamesisch, wir fahren U-Bahn, laufen zu Fuß durch die | |
| ganze Stadt, werden Teil einer antifaschistischen Demonstration, wir sind | |
| all das, was diese Stadt gerade ist. Wir schämen uns für unser Elend, an | |
| dem wir, die wir hier leben, rascher vorübergehen als unser Besuch aus | |
| Brandenburg, der die Augen weit aufreißt, anstatt sie zuzukneifen. | |
| ## Von allem zu viel | |
| Wir eilen vorbei an den Süchtigen, die am Bahnhof Holstenstraße rumlungern, | |
| an dem Verrückten, der schreiend und halbnackt den Steindamm entlanghüpft, | |
| an der alten Frau, die in ihren schwarzen Röcken mit ausgebreiteten Beinen | |
| auf der kalten Erde sitzt, irgendein Zeug vor sich auf einem Tuch | |
| ausgebreitet, das nie jemand kaufen wird, vorbei an dem Menschen, der immer | |
| vor Blume2000 steht, der dort seinen Alltagsplatz hat, und an dem kleinen | |
| Alten, der vollkommen verlumpt und verschmutzt und vor sich hin brabbelnd | |
| durch die Große Bergstraße taumelt – das ist auch unser Leben, so ist das | |
| hier, es ist einfach von allem zu viel. | |
| Vielleicht denkt unser Besuch, dass er froh ist, hier nicht zu leben. | |
| Und dann reden wir über das Leben, das sie führen, im Osten, in diesem | |
| kleinen Dorf. Ihre Kinder haben gerade einen Kurs besucht, in dem sie | |
| lernen, gegen rechte Parolen zu argumentieren. | |
| Sie selbst sehen sich Arbeitskolleg*innen und Nachbar*innen | |
| gegenüber, die in einer Sprache sprechen, die ihnen Angst macht, die eine | |
| Partei wählen, die ihnen Angst macht. Sie reden dagegen an, sie verteidigen | |
| ihre Weltsicht und besuchen Demonstrationen gegen rechts in der nächsten | |
| großen Stadt. | |
| Sie sind all dem sehr nahe und sehr davon betroffen. Sie feiern bald einen | |
| Geburtstag und haben uns eingeladen, und mein Freund, der einen | |
| Migrationshintergrund hat, sagt, er wisse nicht, ob er in den Osten fahren | |
| will. | |
| Unsere Freunde haben eine Handvoll Hühner, züchten ausgezeichnete Tomaten, | |
| sind wunderbare Gastgeber*innen, großzügig und liebenswert. Sie gehören zu | |
| uns und wir gehören zu ihnen. Sie sind nicht die und wir sind nicht wir. | |
| Wir besuchen uns und sehen und verstehen, wie wir leben, verschieden, aber | |
| einig in dem, worauf es ankommt. | |
| Im Wohlerspark blühen derweil schon die Schneeglöckchen, einer schneidet | |
| sich auf der Bank die Fußnägel, ein anderer läuft im Kreis herum und liest | |
| Gebete von einem Zettel ab. Kinder in Schneeanzügen spielen im Sand, | |
| anscheinend wird es Frühling. | |
| 27 Feb 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
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