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# taz.de -- Über die Dinge des alltäglichen Lebens: Möbel mit einem Herz aus…
> Was sagen Einrichtungsgegenstände, Bekleidung, Schmuck schon aus über
> eine Person? Alles und nichts. Über die Bedeutung von Dingen, die uns
> umgeben.
Bild: Jetzt nur noch Sperrmüll auf der Straße: Das Zeug hier hat mal einem Me…
Als junger Mensch stand ich manchmal auf einem Toilettendeckel, um nachts
durch die offene Dachluke unseres Hauses hindurch die Ferne betrachten zu
können. Die Ferne konnte man hauptsächlich nachts betrachten, sie leuchtete
geheimnisvoll orange und war eigentlich die [1][Lichtverschmutzung] über
der fünfzehn Kilometer entfernten Kreisstadt.
Damals hatte ich eine ungeheure Sehnsucht nach meinem Leben, das eines
Tages irgendwo dort draußen beginnen würde, weit, weit weg von diesem Haus,
in dem mir alles so klein vorkam, so schäbig, in dem es auch rein gar
nichts von Wert gab. Nicht ein einziges Möbelstück, von dem ich hätte sagen
können: „Das da, das will ich mal erben.“
Unsere Möbel hatten alle ein Herz aus Spanplatte. Unsere Mutter besaß auch
nie ein einziges wirkliches Schmuckstück, ein schönes Kleid oder einen
schönen Mantel, sie trug billige Jeans und Anoraks, ihre Schuhe waren
bequem, alles musste günstig sein, unsere Eltern konnten sich einfach
nichts anderes leisten.
Unser Vater kaufte sich einmal eine Lederjacke, die ich nie an ihm sah, bis
zu dem Tag, als er sie aus dem Schrank holte, um sie mir für meinen Sohn
anzubieten, weil sie ihm zu klein geworden war. Eine Lederjacke war für
unseren Vater der Inbegriff von Luxus. Es brach mir bald das Herz, als mein
Sohn ihm mitteilte, dass er an der Jacke kein Interesse hätte.
## Kaum andere Möbel als meine Eltern
Jetzt wohne ich seit achtundzwanzig Jahren in Hamburg und besitze kaum
andere Möbel als meine Eltern. Meine Kleider hängen in einem fünfzehn Jahre
alten Ikea-Schrank, dessen gespaltener Fuß von einer Schraubzwinge
zusammengehalten wird.
Habe ich etwas, das schön ist? Ich besitze einen französischen
Wintermantel, den ich mir vor drei Jahren im [2][Alsterhaus] gekauft habe,
eine kleine Perlenkette, ein Köfferchen mit alten Likörgläsern aus
böhmischem Glas, einen großen Band mit dem Gesamtwerk von Bruegel, drei
hübsche Ringe und zwei Schwingstühle der Firma Drabert Söhne aus dem Jahre
1954. Das sind alle meine schönen Dinge, die meine Kinder einmal könnten
haben wollen. Man weiß es nicht. Sie sind insgesamt eigentlich so gut wie
nichts wert. Es scheint mir nur so, weil ich sie nun mal gerne habe.
Als ich kürzlich vom Einkaufen kam, sah ich vor unserem Haus einen ganzen
Haufen Gegenstände an der Wand aufgeschichtet, davor stand ein Mann mit
einem großen Hund an der Leine, der stöberte. Sessel standen da,
zusammengerollte Teppiche, und der Mann blätterte in einem Buch, in dessen
Plastikseiten Schallplatten steckten. Platten interessieren mich, die
Sessel gefielen mir, die Teppiche auch. Aber die Platten und die Möbel, die
da an der Wand neben unserem Eingang standen, gehörten unserer Nachbarin.
Unsere Nachbarin lernten wir erst einige Zeit nach unserem Einzug kennen,
und eigentlich lernten wir sie auch gar nicht kennen, wir sahen nur ihre
Nasenspitze, wenn sie einmal die Tür öffnete. Sie verließ ihre Wohnung seit
über zehn Jahren nicht mehr, sie konnte wohl laufen, aber sie wollte
einfach nicht mehr. Im Frühjahr wurde sie von einem Krankenwagen abgeholt,
und seitdem hat sie die Wohnung, die sie vorher zehn Jahre nicht mehr
verlassen hat, nicht mehr betreten.
Fremde Männer, Angestellte einer Firma, räumen nun ihre Wohnung aus, werfen
wahrscheinlich das meiste weg. Einiges davon stand also kürzlich an der
Hauswand. Und obwohl es mich interessierte, konnte ich es nicht übers Herz
bringen, in diesen Dingen, die zuletzt ihr ganzes Leben waren,
herumzuwühlen.
18 Sep 2022
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Lichtverschmutzung
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Alsterhaus
## AUTOREN
Katrin Seddig
## TAGS
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