# taz.de -- Wo Bierdosen über den Boden rollen: Vom ursprünglichen Charme | |
> Die Große Bergstraße in Hamburg-Altona hat nicht richtig was aus sich | |
> gemacht. Zumindest bisher. Da ist ein Glück. | |
Bild: Die Große Bergstraße in Hamburg-Altona | |
Ich ziehe die Gardine auf, und da wartet schon der Tag, grau und nass. Ich | |
nehme Vitamin D, aber ich glaube, es ist zu wenig oder es hilft nicht. | |
Nichts hilft. Und da beschließe ich, mich alldem einfach hinzugeben. | |
Ich gehe, die Fäuste in den Taschen vergraben, auf der Großen Bergstraße in | |
Hamburg-Altona spazieren. Die Große Bergstraße übt eine große | |
Anziehungskraft auf mich aus. Die Stadt hat nicht geschafft, richtig etwas | |
aus ihr zu machen. | |
Einmal sagte ein Mann, der sich „Coach“ nannte, zu meinem Freund, wenn er | |
wollte, könnte er richtig etwas aus sich machen. Aber warum sollte man so | |
etwas wollen? Leute, die richtig etwas aus sich gemacht haben, sind lästig | |
und unangenehm. Guck die dir doch nur mal an! | |
Das gilt auch für Orte. Hamburg ist voll davon, Straßen, Plätze, Viertel, | |
aus denen richtig etwas gemacht wurde, in völliger Blindheit gegenüber | |
dem, was sie bereits waren. Niemand will sie, niemand fühlt sich in und auf | |
ihnen wohl, außer vielleicht Tourist*innen natürlich, die sehen nicht | |
durch. | |
Und was ist mit dem Rest? | |
Was ist mit den Menschen und den Straßen, die einfach keine Lust haben, | |
richtig etwas aus sich zu machen? | |
## Abstecher unerlässlich | |
„Um den ursprünglichen Charme Altonas als Arbeiter- und Migrationsviertel | |
zu spüren, ist ein Abstecher in die Große Bergstraße jedoch unerlässlich“, | |
heißt es auf der Website [1][hamburg-tourism.de]. Jo! Die Große Bergstraße | |
hat es (noch) nicht geschafft, den „ursprünglichen Charme“ loszuwerden, es | |
gibt hier Arbeiter und Migranten, die den Charme direkt um sich herum | |
versprühen, mit ihrer Arbeiter- und Migrantenlebensweise. Oder wie soll man | |
sich das vorstellen? | |
Wir haben hier übrigens auch Trinker*innen und Obdachlose, rumlungernde | |
Jugendliche, Arbeitslose und Bettler, psychisch Kranke, arme | |
Renter*innen und Großfamilien. Leute, denen man direkt ansieht, dass sie | |
nicht richtig was aus sich gemacht haben, das vielleicht gar nicht wollen, | |
die in der Großen Bergstraße rumschlendern und sich hier nicht falsch | |
fühlen oder unerwünscht. | |
In der Großen Bergstraße habe ich mir ein Stück Wachstuch von der Rolle | |
gekauft, für den Küchentisch. In der Großen Bergstraße habe ich das erste | |
Mal mein Kind gesehen, auf dem Bildschirm in der Gynäkologie. In der Großen | |
Bergstraße sitze ich auch gern draußen beim Vietnamesen, während die Tauben | |
von den Bäumen auf meinen Tisch scheißen. | |
Vor dem Kiosk schreien sich ein paar Männer an. „Arschloch!“, schreit ein | |
Mickriger und fällt von dieser Anstrengung hin, seine Dose rollt über den | |
Boden und verschenkt ihr Bier an den Tag. Im Erdgeschoss von Ikea proben | |
Jugendliche hinter den Schaufenstern das Wohnen, ein Greis ist auf einem | |
Sofa im Sitzen eingenickt, im Eingangsbereich stricken Kopftuchfrauen. | |
„Ich steh auf Blonde“, sagt ein dicker Zwölfjähriger in Trainingshose vor | |
der TK-Maxx-Filiale zu seinem Kumpel, der noch ein Kind ist, „obwohl, | |
schwarz ist auch gut, aber blond …“ „Hö, ja“, sagt der Kleine, mehr f�… | |
ihm dazu nicht ein. | |
Ein Mann mit vollen Aldi-Tüten in den Händen tritt mir freimütig rülpsend | |
entgegen. Zwei Mädchen kreischen über ihrem Handy und können sich kaum mehr | |
beruhigen, theatralisch schütteln sie ihre wunderschönen langen Haare. Ich | |
kaufe mir ein Buch von [2][Georges Perec] im kleinen Buchladen | |
ZweiEinsDrei. „Da gibt’s auch einen Film auf Youtube“, sagt der | |
Buchhändler. | |
Irgendwann werden sie denken, dass man auch aus dieser Straße richtig was | |
machen könnte. | |
5 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.hamburg-tourism.de/shoppen-geniessen/shoppen-in-hamburg/grosse-… | |
[2] /Wahrheit/!5271788 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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