# taz.de -- Digitales Ausmisten: Gegen das Grundrauschen | |
> Im Internet ist viel Lärm. Ein Entrümpeln des virtuell Angehäuften kann | |
> befreiend sein, weil es das Selbstwertgefühl stärkt. | |
Bild: Das Smartphone zu entrümpeln kann befreiend wirken – Sie müssen es ja… | |
Wäre unser Dasein im Internet eine Wohnung, dann wäre die bei den meisten | |
wohl ziemlich unaufgeräumt. Etliche Kisten voll verstaubtem Kram, die sich | |
in jeder Ecke meterhoch türmen. Viel zu viele Möbel, die jeden Weg | |
zustellen und wahrlich nicht von einem Auge für kohärentes Innendesign | |
zeugen. Überall lägen vollgeschriebene Zettel, Hefte und Bücher – | |
Gekritzel, das beim besten Willen nicht mehr zu entziffern ist. Es würde | |
dringend Zeit, alle Fenster aufzureißen und einen großen Sperrmüllcontainer | |
zu bestellen. | |
Aber das Internet ist eben kein physischer Ort. Darum finden sich auf | |
unseren Computern, Laptops und Smartphones, Gaming-Konsolen, Tablets und | |
anderen internetfähigen Gadgets etliche Apps, Profile, Postings – vor allem | |
also Daten, über die die meisten wohl schon längst den Überblick verloren | |
haben. Das Ende eines Jahres und der Beginn eines neuen könnte daher ein | |
guter Zeitpunkt sein, um sich einen Überblick zu verschaffen. Wer bin ich | |
eigentlich im Digitalen? Und wie viel von mir gibt es eigentlich? Es mag | |
sich zeigen: Vieles davon ist Gerümpel. Sich dessen zu entledigen, kann | |
befreiend sein. | |
Um sich die eigene Wohnung mit Krempel vollzustellen, braucht man Geld und | |
Platz. Sicherlich, manchmal werden Bücher am Straßenrand verschenkt. Oder | |
auf einem Flohmarkt lässt sich günstiger Krimskrams kaufen. Doch braucht | |
schließlich jedes Ding seinen Platz – bis eben keiner mehr übrig ist. Das | |
Internet aber ist ein weites Feld. Hier bezahlen wir unsere Zugänge und | |
Güter vor allem mit: Daten. Darum ist die Verlockung auch so groß, hier | |
noch eine App runterzuladen oder sich in jenem sozialen Netzwerk | |
anzumelden. Es kostet ja nichts – und vielleicht wird diese eine digitale | |
Kommodität das Leben endlich angenehmer machen. So wie sie es alle | |
versprechen. | |
## Apps wollen Aufmerksamkeit | |
Zum Beispiel die Pflanzen. Wie schnell können die krank werden. Zum Glück | |
gibt es eine App, die mit nur einer Fotoaufnahme mitteilen kann, was die | |
Pflanze hat, was sie braucht. Oder das praktische digitale Kochbuch. Jeden | |
Tag gibt es mindestens ein neues Rezept mit ganz herrlichen Zutaten – die | |
man direkt auf einen digitalen Einkaufszettel setzen kann. Sie machen | |
Sport? Das sollten Sie auf jeden Fall. Eine App kann helfen. Oder | |
vielleicht gleich drei oder vier – für jeden Tag der Woche eine. Yoga, | |
Pilates, Eigenkörpergewichtstraining. Darauf achten, dass die Übungen ohne | |
Springen sind, sonst stört es die Nachbarn von unten. Und auf keinen Fall | |
das Meditieren vergessen, wo kämen wir denn da hin! Scrollen Sie für | |
Stunden durch den App-Store, um die Meditationsanwendung zu finden, die | |
Ihnen am meisten Ruhe bringt. Freilich, all diese kleinen Programme können | |
ungemein hilfreich sein. Zusammengenommen werden sie schnell zu einer | |
Kakophonie der aufploppenden Botschaften. Besonders dann, wenn | |
Pushnachrichten nicht ausgestellt werden. Dann wird deutlich: Diese Apps | |
haben Bedürfnisse, sie wollen sich mitteilen. | |
## Jede digitale Identität erzeugt Druck | |
Dabei haben wir noch gar nicht von den sozialen Medien gesprochen. Der | |
endlose Reigen an Wörtern, Sätzen, Nachrichten, Fotos, Videos, der durch | |
diese Plattformen zieht und, ob wir wollen oder nicht, ein Bild von dem | |
wiedergibt, wer wir sind – im Internet. Manche noch ganz frisch, vor | |
einigen Tagen eingestellt, nah dem, der wir derzeit sein wollen. Andere | |
Jahre alt, peinlich berührend, von einer Zeit, einer Person zeugend, mit | |
der wir heute vielleicht gar nichts mehr zu tun haben wollen. Und diese | |
Plattformen wollen ja auch immer wieder neu befüllt werden. Sie sind nicht | |
zufrieden damit, dass Sie gestern etwas gepostet haben – Sie müssen es | |
heute noch mal tun. Sonst geht Ihr Algorithmus kaputt. | |
Dann gehen Sie in sich und überlegen, wo Sie sich über die vielen Jahre | |
schon überall angemeldet haben. Wer ist nicht noch bei StudiVZ, obwohl er | |
längst kein Student mehr ist? Wer bei Linkedin, obwohl er keinen Job sucht? | |
Da sind die Blogbeiträge von vor zehn Jahren, in denen Sie versucht haben, | |
Poesie zu verfassen. Oder die Reisebeiträge, in denen Sie Ihre vielen | |
Erlebnisse verarbeiten wollten. Die hat damals niemand gelesen, was, wenn | |
sie heute jemand entdeckt? | |
Denken Sie nur an die vielen Abonnements, die Sie noch abgeschlossen haben. | |
Der Digitalausgaben diverser Zeitungen. Oder [1][die vielen Newsletter, die | |
jede Woche im E-Mail-Postfach landen]. Jede Mail macht das schlechte | |
Gewissen größer, dass wieder eine Woche vergangen ist, in der keine einzige | |
dieser sicherlich wichtigen Postillen gelesen wurden. All das lässt sich | |
löschen, der Ballast lässt sich nehmen. | |
## Überforderung, Erschöpfung, Konzentrationsprobleme | |
Arthur Bohlender ist Psychologe mit eigener Praxis in Berlin. Der Umgang | |
mit digitalen und sozialen Medien ist einer seiner Schwerpunkte. Er erlebe | |
es öfter, dass Menschen zu ihm kommen, die Probleme mit dem Internet haben. | |
„Viele haben das Gefühl, dass sie nicht nach eigenem Antrieb handeln“, sagt | |
er. Vielmehr seien es Pushnachrichten, E-Mails und andere vermeintliche | |
Verpflichtungen, von denen sich die Menschen getrieben fühlen. Sie hätten | |
ständig das Gefühl, ihre vielen Kanäle pflegen zu müssen. Das könne sich | |
auf unterschiedliche Weise äußern und zum Problem werden. „Überforderung, | |
Erschöpfungszustände, Schwierigkeiten, sich noch zu konzentrieren.“ Einige | |
empfänden den Drang, ständig ihre vielen Profile auf dem neuesten Stand zu | |
halten. Andere bräuchten das Feedback von anderen Menschen – die | |
Bestätigung, gesehen und gehört zu werden. Daher: „Digitale Entrümplung | |
kann gut für das Selbstwertgefühl sein“, sagt der Psychologe. | |
Es gehe darum, diesen Konsum bewusst zu pflegen. Und auch, sich zu | |
vergegenwärtigen, dass das [2][Preisgeben privater Details im Internet | |
risikoreicher ist als im eigenen Umfeld]. Man könne sich eben nie sicher | |
sein, wer das alles sehen kann. „Das Persönliche wird frei zugänglich. Das | |
kann durchaus auch positive Seiten haben. Aber man muss sich eben bewusst | |
sein, dass es so ist“, sagt er. Denn gerade durch diese Internet-Persona, | |
die sich viele aufbauen, könne eine höhere emotionale Belastung entstehen. | |
Durch das digitale Entrümpeln hingegen wieder eine Steuerbarkeit entstehen. | |
Er gibt diese Empfehlung seinen Patienten immer wieder. „Wer aufräumt, wird | |
aktiv. Trennt nützlich von unnützlich, erlangt wieder Kontrolle“, sagt er. | |
## Löschen kann erholsam sein | |
Es kann also helfen, sich am Ende eines Jahres einen analogen Stift und | |
Zettel zu greifen und im Gehirn zu googeln: Wo im Internet sind wir | |
eigentlich? Und wie? Was davon tut uns gut, bringt uns Freude? Was trägt | |
zur Last bei? Und dann gilt es zu löschen. Profile zu leeren, Seiten aus | |
dem Netz zu nehmen. Accounts zu schließen, Abos zu kündigen. Noch einmal | |
die Blogposts von damals durchlesen, um sie dann der Existenz zu berauben. | |
Vielleicht drei der fünf Social-Media-Präsenzen verschwinden zu lassen, als | |
wären sie niemals da gewesen. Diese Seite von uns, die aufrechtzuerhalten | |
so viel Mühe gekostet hat. Vielleicht bemerken wir ja, dass dieses | |
Grundrauschen, das ständige Surren, etwas leiser wird. | |
Und vielleicht merken wir auch, dass das Internet als solches und das | |
Smartphone, das bei vielen schon mit im Bett liegt, eigentlich viele | |
Annehmlichkeiten bringt. Kein Teufelswerk ist, sondern menschengemacht. Und | |
damit gleichzeitig gewinnbringend und kraftraubend. Finden wir die Orte in | |
diesem Netz, die uns wirklich bereichern. Der Rest darf lautlos werden. | |
6 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Matthias Kreienbrink | |
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