# taz.de -- Journalistische Formate: Wiederentdeckung des Newsletters | |
> Plötzlich zahlen Menschen gern für Newsletter. Sie sind | |
> niedrigschwelliger als klassischer Journalismus. Doch fehlt es an | |
> redaktioneller Kontrolle. | |
Bild: „Send Mail“ | |
Bestellbestätigungen, Rechnungen und Werbung – jahrelang landete bei den | |
meisten vermutlich nichts anderes mehr im privaten Mailpostfach. | |
Persönliche Nachrichten werden schon lange nicht mehr per E-Mail | |
verschickt, sondern über Messenger oder DMs. Seit einiger Zeit aber | |
gesellen sich in den Postfächern zu den unliebsamen Mails immer mehr | |
Newsletter. [1][Laut der aktuellen Onlinestudie von ARD und ZDF] lesen | |
mittlerweile 21 Prozent der über 14-Jährigen in Deutschland mindestens | |
einmal pro Woche einen Newsletter. | |
Große Medienhäuser verschicken schon länger im Wochen- oder Tagesrhythmus | |
per Newsletter zielgruppenspezifische Inhalte an ihre Leser:innen. Doch in | |
den vergangenen Monaten sind es vor allem Newsletter von Individuen, die | |
sich besonders großer Beliebtheit erfreuen. In den USA – die in solchen | |
Fragen Europa meist ein wenig voraus sind – spricht man schon von einer | |
„independent newsletter revolution“ als Nachfolge der Blogging- und | |
Influencer-Zeit. Die „Individuen“ sind Journalist:innen oder | |
Autor:innen, aber auch Promiköch:innen, Sportler:innen und nicht | |
berühmte Menschen mit oder ohne „special interests“. Wieso feiert das | |
Medium gerade jetzt ein Comeback? | |
Ein Teil der Antwort dieser Frage hat sicher mit der Coronapandemie zu tun. | |
Viele Menschen hatten während des ersten Lockdowns wieder mehr Zeit zum | |
Lesen – und auch zum Schreiben. So war es zum Beispiel bei Sophia Hembeck. | |
Seit dem Frühjahr 2020 verschickt die Autorin in ihren Dreißigern jeden | |
Sonntag [2][„The Muse Letter“.] | |
„Ich hatte damals seit Langem mal wieder ein bisschen Zeit und Ruhe. Und | |
weil mir Instagram zu schnelllebig geworden ist, dachte ich mir, warum | |
nicht ein Medium ausprobieren, bei dem man ein bisschen mehr Raum für seine | |
Gedanken hat“, sagt sie der taz. In ihrem Newsletter erzählt sie dann mal | |
vom Streit mit ihrem Vermieter, ihrer Flugangst oder warum man auch als | |
Erwachsene:r noch immer Albträume von der Schule hat. Jeden Sonntag | |
lässt sie rund 2.000 Leser:innen an ihrem Alltag in Edinburgh und ihrer | |
Gefühlswelt teilhaben. | |
## Gefühl von Sonntag am Frühstückstisch | |
Warum aber ein Newsletter und nicht einfach ein Blog? „Für mich hat das | |
Lesen etwas von dem Gefühl, sonntagmorgens mit der Zeitung am | |
Frühstückstisch zu sitzen. Nur jetzt eben mit Laptop oder Handy“, sagt sie. | |
Weil die meisten Newsletter, die sie abonniert, über die Onlineplattform | |
Substack verschickt werden, meldete sie sich auch dort an. Und hier liegt | |
neben der Pandemie die wohl zweite wichtige Ursache für den Erfolg des | |
Newsletters. [3][Das US-amerikanische Unternehmen Substack] wurde 2017 | |
gegründet, die Idee dahinter ist simpel: Substack ist eine Plattform zum | |
Bloggen und Verschicken von Newslettern. | |
Autor:innen können entscheiden, ob sie ihre Inhalte kostenlos oder gegen | |
Bezahlung im Abomodell anbieten möchten, Substack behält zehn Prozent der | |
Einnahmen ein. Die Abokosten können von den Autor:innen selbst | |
festgelegt werden und liegen in der Regel zwischen 5 und 15 Dollar pro | |
Monat. Substack verspricht, in keiner Form Einfluss auf die Inhalte | |
auszuüben. Die Unternehmer:innen verstehen Substack dabei als neue | |
Heimat für den Journalismus, bei dem die Autor:innen gut bezahlt werden. | |
Die inhaltliche Ausrichtung der Newsletter ist breit: Es gibt | |
Cocktailrezepte ebenso wie Analysen der US-Politik, Vorhersagen, wie der | |
Bitcoin sich entwickeln könnte, oder persönliche Essays. | |
## Rettung oder Untergang des Journalismus | |
Je nachdem, wen man fragt, ist das Unternehmen mit seiner Idee die Rettung | |
oder der Untergang des Journalismus oder gleich eine gravierende Gefährdung | |
der Demokratie. Für wieder andere ist Substack nur ein kurzer Hype oder | |
gleich das neue soziale Medium, das bald alles bestimmen wird. Diese | |
Zuschreibungen sind vermutlich alle etwas extrem, doch klar ist: Trotz | |
zahlreicher Alternativen hat sich Substack mittlerweile als | |
Newsletter-Plattform durchgesetzt. Innerhalb von einem Jahr hat sich die | |
Zahl der zahlenden Abonnent:innen laut dem Unternehmen vervierfacht und | |
liegt nun bei einer Million. | |
Zum Erfolg der Plattform haben auch prominente Journalist:innen | |
beigetragen, die sich von ihren vorherigen Arbeitgebern „gecancelt“ | |
fühlten. Dazu zählt [4][Bari Weiss, die 2020 bei der New York Times | |
kündigte], weil sie als konservative Redakteurin keinen Rückhalt im | |
Unternehmen gespürt habe. Andrew Sullivan verließ das New York Magazine aus | |
ähnlichen Gründen. [5][Glenn Greenwald fühlte sich von dem von ihm | |
mitgegründeten Onlinemagazin The Intercept zensiert]. | |
## Ungeprüfter Meinungsjournalismus | |
Und dann ist da noch der NYT-Autor Alex Berenson, dessen Twitterprofil | |
deaktiviert wurde, nachdem er Falschnachrichten über Covid-Impfungen | |
verbreitet hatte. Sie alle schreiben nun schon seit über einem Jahr | |
erfolgreiche Newsletter bei Substack, und zwar ohne eine Redaktion im | |
Rücken, die kritische Nachfragen stellt, redigiert oder Fakten überprüft. | |
Sarah Roberts, kalifornische Medienprofessorin, kritisiert das. In | |
Substack sieht sie eine „Bedrohung für den Journalismus“. Denn ohne | |
redaktionelle Qualitätskontrolle und Faktenchecking seien die Newsletter | |
lediglich Geldmacherei mit ungeprüftem Meinungsjournalismus. So schrieb es | |
Roberts in einem viel beachteten Thread bei Twitter. | |
## Summen im hohen sechsstelligen Bereich | |
Dass diese Form der Individualisierung irgendwann auch den Journalismus | |
erreicht, ist erst einmal keine Überraschung. Auch in anderen Branchen hat | |
diese Vereinzelung stattgefunden, ein Beispiel dafür ist die Plattform | |
OnlyFans. Zwischeninstanzen, die mitverdienen oder mitentscheiden wollen, | |
fallen so weitestgehend weg. Das macht die Branchen offener, das | |
Gatekeeping entfällt: Theoretisch gesehen kann jeder und jede so | |
erfolgreich werden, der Einstieg ist niedrigschwelliger. Doch das Problem | |
ist natürlich: Im Journalismus sollte es nicht um einzelne Stars gehen, | |
sondern in erster Linie um faktentreue Berichterstattung. | |
Weiss, Sullivan, Berenson und Greenwald sind mit ihren Substack-Newslettern | |
überaus erfolgreich und verdienen durch die Abos jährlich Summen im hohen | |
sechs- und niedrigen siebenstelligen Bereich. Vermutlich deutlich mehr, als | |
sie als Redakteur:innen verdient haben. Damit bilden sie eher die | |
Ausnahme als die Regel. In der Regel können diejenigen von ihren | |
Newslettern leben, die auch schon zuvor berühmt waren. Anders als bei | |
sozialen Medien folgt man auch nicht Hunderten oder Tausenden, sondern eher | |
einer Handvoll Autor:innen – und auf die muss man auch erst einmal | |
aufmerksam werden. | |
## Nur eine Form des Journalismus | |
Substack verspricht auf seiner Website, dass im Schnitt zehn Prozent der | |
Abonennt:innen zahlen. Bei der Autorin Sophia Hembeck sind es eher vier | |
Prozent, und ihrer Erfahrung nach sehe es bei anderen nicht berühmten | |
Newsletter-Schreiber:innen ähnlich aus. Der Newsletter ist also nicht der | |
Hauptbroterwerb – sondern eher ein Nebenprodukt für die Schreibenden. Bei | |
Stars wie der Autorin Roxane Gay sind es dafür 20 Prozent der 36.000 | |
Abonennt:innen, die den Jahresbeitrag von 60 Dollar zahlen. Geld, das sie | |
im Übrigen nicht ausgezahlt bekommt, weil sie – wie einige andere Promis – | |
einen exklusiven Vertrag mit Substack abgeschlossen hat. | |
Leser:innen sind also durchaus bereit, für die Inhalte zu zahlen, die | |
sie konsumieren. Im Kulturbereich leider keine Selbstverständlichkeit. Dass | |
Substack jedoch den Journalismus „zerstören“ wird, wie es manch eine:r | |
vermutet, ist erst einmal genauso unwahrscheinlich wie die Hoffung, dass es | |
ihn „retten“ wird. Denn Meinungsbeiträge sind nur eine Form des | |
Journalismus und Formen wie Reportagen oder investigative Recherchen finden | |
in den Newslettern laut einer Recherche der NYT bislang kaum statt. | |
## Spannendes Experimentierfeld | |
Zudem haben die Vorwürfe zu fehlenden Kontrollmechanismen zwar durchaus | |
ihre Berechtigung, allerdings kamen die auch schon in den Nullerjahren auf, | |
als plötzlich jede:r einen eigenen Blog hatte. Und auch die Blogs haben | |
den Journalismus nicht nachhaltig zerstört. Welchen Raum Privatnewsletter | |
im Journalismus einnehmen werden, muss sich noch zeigen. So lange kann man | |
die Wiederentdeckung des Newsletters als spannendes Experimentierfeld | |
verstehen. | |
So verkündete beispielsweise der Bestsellerautor Salman Rushdie im Oktober, | |
[6][seinen neuen Roman „Quichotte“] als wöchentlichen Substack-Newsletter | |
zu veröffentlichen, zum Abopreis. Und außerdem ist es doch schön, | |
wöchentlich eine nette Mail, einen klugen Gedanken oder einen interessanten | |
Funfact im Postfach zu haben – auf den man nicht einmal antworten muss. | |
8 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ard-zdf-onlinestudie.de/files/2021/ARD_ZDF_Onlinestudie_2021_Pu… | |
[2] https://themuseletter.substack.com/ | |
[3] https://substack.com/ | |
[4] /Vorwuerfe-gegen-US-Tageszeitung/!5696012 | |
[5] /Streit-bei-US-Investigativplattform/!5724883 | |
[6] https://www.deutschlandfunkkultur.de/salman-rushdie-quichotte-bitterboese-a… | |
## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
## TAGS | |
Journalismus | |
Online-Journalismus | |
Medien | |
Glenn Greenwald | |
Individualismus | |
Aufräumen | |
Bild-Zeitung | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Medienpolitik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Digitales Ausmisten: Gegen das Grundrauschen | |
Im Internet ist viel Lärm. Ein Entrümpeln des virtuell Angehäuften kann | |
befreiend sein, weil es das Selbstwertgefühl stärkt. | |
Corona-Berichterstattung der „Bild“: Das Auditorium schlägt zurück | |
Ungewohnt deutlich kritisieren wissenschaftliche Institutionen die „Bild“. | |
Die Zeitung berichte schon lange einseitig über Wissenschaft. | |
Journalismus in Grenzregionen: Grüne Grenze des Schweigens | |
An den EU-Außengrenzen wird die Pressefreiheit stark eingeschränkt. Gerade | |
dort aber ist unabhängige Berichterstattung enorm wichtig. | |
Vielfalt im Journalismus: Immer die gleichen Nachrichten | |
Jeden Abend schauen Millionen Menschen in Deutschland Nachrichten. Doch | |
viele Gruppen sind dort kaum zu sehen, belegt eine aktuelle Analyse. |