| # taz.de -- Ausstellung über Moses Mendelssohn: Reden mit Andersdenkenden | |
| > Er war ein Bildungsmigrant und ein Dialog-Profi. Das Jüdische Museum | |
| > Berlin widmet sich Moses Mendelssohn, dem Philosophen der Aufklärung. | |
| Bild: Ein Star seiner Zeit: Blick auf die Porträts von Moses Mendelssohn in de… | |
| Ein Tora-Vorhang aus Seide von 1774 liegt in einer Vitrine. Denn wir | |
| befinden uns im Museum, im Jüdischen Museum in Berlin. Er ist bestickt mit | |
| Blumenranken und religiösen Symbolen. Zwei goldene Löwen halten eine | |
| Tora-Krone, die Bundeslade und Leuchter sind abgebildet. Die gestickte | |
| Inschrift verrät, dass dieser Tora-Vorhang [1][von Moses Mendelssohn und | |
| seiner Frau Fromet] gestiftet wurde. Das Museumsdisplay neben diesem | |
| prächtigen textilen Kunstwerk verrät, dass die Seide vermutlich von Fromets | |
| Hochzeitskleid stammte und das Geschenk an ein kleines Berliner Betshaus | |
| ging, das das Paar besuchte. | |
| Der Tora-Vorhang ist Teil einer kulturhistorischen und biografischen | |
| Ausstellung über Moses Mendelssohn: „Wir träumten von nichts als | |
| Aufklärung“. Das Material Seide spielte im Leben des Philosophen eine große | |
| Rolle, prägte es doch seine Brotberufe. Er wurde 1743 zuerst Hauslehrer des | |
| Seidenhändlers Bernhard Isaak, elf Jahre später dort Buchhalter und 1768 | |
| schließlich Teilhaber der Seidenfabrik. Der Seidenhandel und die Produktion | |
| gehörten zu den Unternehmen, in denen jüdische Protagonisten dem | |
| preußischen Staat willkommen waren, weil das Luxusgut Steuereinnahmen | |
| brachte. Niederlassungsrechte waren daran gebunden. | |
| „Er ist bis etwa Nachmittag um 4 Uhr im Contor und wendet die übrige Zeit | |
| bis Mitternacht zum studiren (sic) an“, berichtete Mendelssohns Freund, der | |
| Schriftsteller und Buchhändler Christoph Friedrich Nicolai, in einem Brief | |
| über den arbeitsreichen Tag Mendelssohns. Der Brief enthält ein | |
| bewunderndes und liebevolles Porträt seines Freundes und wird in der | |
| Ausstellung an einer Hörstation vorgelesen. | |
| Eine biografische Ausstellung über einen Schriftsteller und Philosophen der | |
| Aufklärung, der für Religionsfreiheit, Gleichberechtigung von Minderheiten, | |
| Toleranz und die lebenslange Schulung des eigenen Verstandes eintrat, zu | |
| konzipieren, ist keine einfache Sache. | |
| ## Bedeutung in der Gegenwart | |
| Natürlich spielen Texte dabei eine große Rolle. Die kurzen Wandtexte, die | |
| die Themen der Räume vorstellen, nutzen eine Sprache, die sehr schnell | |
| Verbindungen in die Gegenwart herstellt. Da wird der 14-jährige Moses, der | |
| seinem verehrten Talmud-Lehrer David Fränkel von Dessau nach Berlin folgt, | |
| zu einem „Bildungsmigranten“. Nicolai erzählt, wie der Junge, der bis dahin | |
| nur hebräisch konnte, sich in kurzer Zeit selbst Latein, Französisch, | |
| Deutsch und Englisch (und vieles mehr) beibrachte. | |
| „Wie redet man mit Andersdenkenden?“ ist das Kapitel über Dialog und | |
| Netzwerk überschrieben, das Mendelssohn als „Dialog-Profi“ darstellt, der | |
| seine Bücher (in deutsche Sprache) in Gesprächsform und als Briefwechsel | |
| publizierte, wie etwa den „Briefwechsel über das Trauerspiel“, von | |
| Mendelssohn, Nicolai und Lessing. Kostbare alte Ausgaben liegen in | |
| Vitrinen. Auch große Bücher sind zu sehen, die Blätter mit der Hand | |
| beschrieben, die das Verfassen der Gedanken, das ständige Kommentieren und | |
| ins Verhältnis setzen dokumentieren. | |
| Wenn Thomas Lackmann von der Mendelssohn-Gesellschaft, der mit Inka Bertz | |
| aus dem Jüdischen Museum die Ausstellung kuratiert hat, im Katalog | |
| beschreibt, mit welchen Eigenschaften Moses Mendelssohn in die | |
| Auseinandersetzungen ging, wird daraus auch ein Wunschbild ersichtlich für | |
| die Kommunikationsformen der Gegenwart. Lackmann zählt auf: „Höflichkeit, | |
| Offenheit, Herzlichkeit, Witz und Ironie, Interesse und Neugierde, scharfe | |
| Kritik. […] Engagement, Lust am spielerischen Gefecht, Sachlichkeit, | |
| Gründlichkeit, Leidenschaft“, und damit ist er noch nicht am Ende. | |
| ## Debatten im Kaffeehaus | |
| Die Zeit von Mendelssohn in Berlin war die einer langsam entstehenden | |
| bürgerlichen Öffentlichkeit jenseits akademischer und konfessioneller | |
| Institutionen. Eine wunderbare Federzeichnung zeigt lebhafte Gespräche an | |
| den Tischen eines Kaffeehauses, eine andere von [2][Daniel Chodowiecki] | |
| Freunde, die in einer Gartenlaube zusammenkamen; beides Orte, die auch von | |
| Mendelssohn und seinen Freunden Nicolai und Lessing frequentiert wurden. | |
| Interessant ist auch eine kleine Abbildung eines sogenannten | |
| Freundschaftstempels im Hause Gleim, das zwei Zimmer zeigt, deren Wände | |
| über und über mit Porträts bedeckt sind. So wurden Seelen- und | |
| Geistesfreundschaften mit Frauen und Männern ausgestellt, an deren Denken | |
| man teilnahm, auch wenn man sie kaum persönlich treffen konnte. Der Dichter | |
| Gleim war denn auch einer der Auftraggeber für eines der vielen Porträts | |
| von Mendelssohn. | |
| Den Miniaturen und Gemälden, die ihn, dessen Körper durch eine | |
| Nervenkrankheit gezeichnet war – sie hatte seinen Rücken verkrümmt –, | |
| darstellen, gilt ein eigener Raum. Er wurde viel gemalt und sein Konterfei | |
| in Reproduktionen und Kopien ungewöhnlich weit verbreitet. Das ist ein | |
| Zeugnis für seine Ausnahmestellung als „juif a Berlin“, der selbst in | |
| Frankreich gelesen wurde. Zudem drückt sich in der Bildproduktion die | |
| Bewunderung für einen Menschen aus, der trotz körperlicher Schwäche so | |
| einen Geist entfalten konnte. | |
| ## Verweigerung von Rechten | |
| Auch für einen erfolgreichen Juden, der wie Mendelssohn das Privileg eines | |
| außerordentlichen Schutzjuden erhalten hatte, war das Leben im Berlin unter | |
| Friedrich II. nicht einfach. Der König verhinderte etwa seine Aufnahme in | |
| die Akademie der Wissenschaften und weigerte sich, auch Mendelssohns Frau | |
| und Kindern Schutzrechte zu geben. Er zitierte den Denker, der für Juden | |
| die gleichen Rechte wie für alle wollte, zwar einmal an den Hof nach | |
| Potsdam, aber nur, weil ein Gast und Bewunderer Mendelssohns, der | |
| kursächsische Minister von Fritsch, mit diesem reden wollte. Der König | |
| selbst traf Mendelssohn nicht; nichtsdestotrotz gibt es ihre angebliche | |
| Begegnung als Anekdote. | |
| Sie findet Eingang in einen Comic, den der niederländische Künstler Typex | |
| als Begleitung zur Ausstellung und wohl auch als Versuch einer anderen | |
| Zugangsweise im Auftrag des Museums gestaltet hat. Bildreich ist Moses | |
| Mendelssohns Abneigung gegen Perücken, einer Angleichung an den höfischen | |
| Habitus, ausgemalt. Der Kampf um Identität, sowohl an jüdischen Traditionen | |
| festzuhalten, als auch der Moderne, dem Fortschritt gegenüber offen zu sein | |
| und vor allem den Verstand gegenüber dem Abergläubischen zu nutzen, zieht | |
| sich durch die von Typex ausgewählten Episoden. | |
| Konflikte gab es viel. Man sieht in der Ausstellung die Porträts der | |
| Rabbiner, die gegen seine Übersetzung der Tora ins Deutsche waren, und von | |
| denen, die ihn unterstützten. Festgehalten in einem Gemälde ist auch eine | |
| Auseinandersetzung mit Lavater, der Mendelssohn einen Übertritt zum | |
| Christentum abpressen wollte und ihn, der das Aushalten unterschiedlicher | |
| Weltbilder nebeneinander zur Tugend machte, damit schwer unter Druck | |
| setzte. | |
| Am Ende der Ausstellung steht ein Ausblick auf die Mendelssohn-Rezeption, | |
| zitiert in Sätzen, die auf eine Wand projiziert werden. Für Hannah Arendt | |
| ist er ein Role Model für den freien Intellektuellen. Deutsche waren stolz | |
| auf den Ruhm des „Berliner Sokrates“. Die Neoorthodoxen feiern seine | |
| Gesetzestreue. Zionisten schieben ihm die Schuld an einer Assimilation zu, | |
| die die eigene kulturelle Identität geschwächt habe. Schon in diesen | |
| kontroversen Bildern spiegelt sich, dass die Konflikte, die Moses | |
| Mendelssohn erlebte, weiter virulent sind. | |
| 20 Apr 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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