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# taz.de -- Buch über vertriebene Juden: Das Schtetl in Oberbayern
> Alois Bergers Buch „Föhrenwald“ erzählt eine ganz andere
> Heimatgeschichte. Sie handelt von vertriebenen Juden in einer Siedlung
> südlich von München.
Bild: Das ehemalige Lager für „Displaced Persons“ in Föhrenwald ca 1956
Beim Stichwort Oberbayern mögen die meisten Menschen an hügeliges
Voralpenland, sattgrüne Wiesen mit Rindviechern darauf und in der Sonne
glitzernde Seen denken, vielleicht noch ans schneebedeckte Hochgebirge. Die
Ortsbezeichnung Wolfratshausen könnte man mit dem ehemaligen
Ministerpräsidenten Edmund Stoiber assoziieren, der dort zu Hause ist,
vielleicht noch an das berühmte Frühstück im Jahr 2002 mit Angela Merkel
dortselbst denken, bei dem die CDU-Chefin ihren Verzicht auf die
Kanzlerkandidatur zugunsten von Stoiber erklärte.
Aber ganz gewiss werden die wenigsten Menschen dabei an Jüdinnen und Juden
denken.
Alois Berger kommt aus Wolfratshausen. Der Journalist hat sich auf die
verdrängten Spuren in seiner Heimat begeben, auf die Spuren dessen, was
lange nicht ausgesprochen worden ist. Es geht dabei nicht um die
Ortsgeschichte einer kleinen deutschen jüdischen Gemeinde, sondern um etwas
viel Größeres. Denn unmittelbar bei Wolfratshausen bestand [1][nach Krieg
und Holocaust eine jüdische Siedlung, ja fast eine Stadt: Föhrenwald].
Die ersten Überlebenden, die in der während der NS-Zeit erbauten Siedlung
für Fabrikarbeiter einzogen, waren Menschen, die den Todesmarsch aus dem KZ
Dachau überlebt hatten. Aber bald kamen mehr – [2][Jüdinnen und Juden, die
die Shoah versteckt in Osteuropa überstanden hatten, und solche, die bis in
den unbesetzten Teil der Sowjetunion ausgewichen waren]. Solche, die Haft
und KZ überstanden hatten.
In ihrer alten Heimat waren sie nicht mehr erwünscht, dort hatten längst
christliche Nachbarn ihre Wohnungen okkupiert und gedachten dort nicht
auszuziehen. Freunde und Verwandte waren tot. Die Überlebenden waren auf
der Suche nach einer neuen Heimat – Eretz Israel, die USA, Australien …
## Ein guter Startpunkt
Ausgerechnet das von den Alliierten besetzte Deutschland schien dafür ein
guter Startpunkt zu sein, und da wiederum das amerikanisch besetzte Bayern.
So machten sich bald Hunderttausende auf den Weg nach Deutschland, nicht um
dort zu leben, sondern um es als Sprungbrett für die ersehnte neue Heimat
zu nutzen.
Mehr als 5.000 von ihnen landeten in Föhrenwald.
Die US-Amerikaner hatten bald verstanden, dass diese Menschen nicht
zusammen mit den Displaced Persons aus anderen Nationen in einem Lager
zusammenleben konnten. Ein KZ-Häftling neben einem ehemaligen Bewacher, das
ging einfach nicht. Deshalb entstand eine ganze Reihe von DP-Lagern
exklusiv für die Jüdinnen und Juden. Föhrenwald war eines von ihnen – und
es war das letzte seiner Art, geschlossen erst im Jahr 1957.
## Ort der verletzten Seelen
[3][Alois Berger geht den Spuren Föhrenwalds nach]. Er hat mit heute
älteren Menschen gesprochen, die damals als Kinder dort aufwuchsen,
zeichnet das Leben im Lager nach, die Selbstverwaltung, aber auch den
Konflikt zwischen den Strenggläubigen auf der einen und den zionistisch
Gesinnten auf der anderen Seite. Auch wenn die Kinder von damals die
Siedlung als einen großen Spielplatz in Erinnerung haben: Föhrenwald war
ein Ort der verletzten Seelen, die um ihre Angehörigen trauerten und doch
wild entschlossen zu neuem Leben waren.
Nicht allen gelang der Absprung. Wer zu krank war, gar unter Tuberkulose
litt, konnte auch nach der Gründung des Staates nicht so einfach nach
Israel auswandern, und auch andere Länder verschlossen ihnen die Tore. Sie
blieben in Föhrenwald hängen. Hinzu kamen Personen, die in der neuen Heimat
kein Glück gehabt hatten und nun in das oberbayerische Schtetl
zurückkehrten, sehr zum Missfallen der bundesdeutschen Behörden.
Alois Berger, geboren im Jahr der Schließung von Föhrenwald, hat dabei auch
ein ganz besonderes Heimatbuch geschrieben. Er erzählt von der
Sprachlosigkeit der bayerischen Bewohner in Föhrenwalds Umgebung in seinen
Kindheitstagen, davon, dass niemand darüber berichten wollte, dass wenige
Jahre zuvor dort Jüdinnen und Juden gelebt hatten.
Föhrenwald blieb ein Geheimnis für Eingeweihte, über das man nicht sprach.
Berger, selbst streng katholisch als Sohn eines Bäckers aufgewachsen, hat
einen seiner ehemaligen Lehrer besucht und ihn gefragt, woran das gelegen
haben mag, er fragt ehemalige Mitschüler.
## Schweigen aus Scham
Da werden keine Altnazis entdeckt und auch keine neuen. Die Wolfratshauser
wussten sehr wohl, was sie und alle Deutschen bis 1945 angerichtet hatten,
trotz ihres katholischen Glaubens. Sie schwiegen aus Scham in der Hoffnung
auf ein Vergessen.
So verschwand Föhrenwald aus der Geschichte. Die Siedlung wurde nach dem
Wegzug der letzten jüdischen Bewohner in Waldram umbenannt und beherbergte
fortan fromme Katholiken.
Und wenn es nicht Menschen gäbe, die dort nach einigem Widerstand an das
jüdische Föhrenwald erinnern würden und solche wie Alois Berger, die das
alles aufschreiben, dann gäbe es diese Geschichte nicht mehr.
4 Nov 2023
## LINKS
[1] /73-Jahrestag-der-Befreiung-von-den-Nazis/!5500783
[2] /Zeitschrift-ueber-Graeuel-der-Nazis/!5761590
[3] /taz-Talk-mit-Alois-Berger/!vn5919403
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Juden
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Vertreibung
Displaced Persons
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NS-Verfolgte
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