# taz.de -- Buch über Juden in Deutschland: Fremde Heimat | |
> Tobias Freimüller dokumentiert die Widersprüchlichkeit der jüdischen | |
> Nachkriegsgeschichte in Frankfurt am Main. Das macht er umsichtig und | |
> souverän. | |
Bild: Ausstellung 1961 in Frankfurt/Main. Oberbürgermeister Werner Bockelmann … | |
„Ach hädde mer die Judde noch“, soll so mancher Frankfurter nach dem März | |
1944 gestöhnt haben, nachdem alliierte Bomber die Stadt am Main in Schutt | |
und Asche gelegt hatten. Aus dem Stoßseufzer spricht eine Reue, die von | |
schlechtem Gewissen zeugt und von der religiösen Deutung, dass die | |
Ausbombung womöglich die göttliche Strafe für die Verfolgung, Vertreibung | |
und Vernichtung der Frankfurter Juden sei. | |
Frankfurt war bis 1933 für die Juden in Deutschland neben Berlin die | |
wichtigste Stadt mit der größten [1][Gemeinde] und der sichtbarsten | |
Präsenz, gerade auch im Bürgertum. Dass jüdisches Leben in Frankfurt heute | |
wieder sichtbar ist, ist allerdings kein Produkt des schlechten Gewissens | |
von 1945, sondern der Rückkehr der Geschichte in den 1980er Jahren und | |
einer neuen selbstbewussten Rolle, die die Frankfurter Jüdische Gemeinde | |
darin spielte. In den 1950er bis 1970er Jahren war das jüdische Leben | |
hingegen weitgehend unsichtbar. | |
Das zeigt in beeindruckender Weise [2][Tobias Freimüller] in seinem Buch | |
über die Neuanfänge und die Fremdheitserfahrungen der Juden in Frankfurt. | |
Nach 1945 kehrte nur noch ein kleiner Rest der alten Frankfurter Juden | |
zurück, nachdem der Oberbürgermeister Walter Kolb, einmalig in Deutschland, | |
eine Bitte zur Rückkehr formuliert hatte. | |
Von ihnen war Max Horkheimer der bekannteste, während Theodor W. Adorno | |
erst noch berühmt werden sollte – beide eröffneten das 1933 geschlossene | |
[3][Institut für Sozialforschung] wieder. Die meisten Juden in Frankfurt | |
waren nach Kriegsende sogenannte Displaced Persons aus Osteuropa, die in | |
Hessen gestrandet waren und von denen einige schließlich blieben. Die | |
Jüdische Gemeinde musste also unter dem Schutz der US-Amerikaner und der | |
sozialdemokratischen Landes- wie Stadtregierung ganz neu aufgebaut werden. | |
## Den Neuaufbau ausleuchten | |
Diese Geschichte des Neuaufbaus schildert Freimüller, stellvertretender | |
Direktor des [4][Fritz-Bauer-Instituts], im Wechselspiel zwischen | |
innerjüdischen, die Community betreffenden Kapiteln und solchen, die | |
öffentliche Vorgänge, vor allem die sogenannte deutsch-jüdische | |
Entwicklung, ausleuchten. | |
Das geschieht umsichtig und souverän, ohne dass der Autor die Ebenen und | |
ihre Mühen meiden würde – Daten, Zahlen und Statistiken bemüht er genauso | |
wie Lebensläufe. | |
Die Episoden des Buches sind von thematischen Vertiefungen bestimmt: | |
Migrationsbewegungen und Sozialarbeit, Restitution und Reparation, | |
antisemitische Friedhofsschändungen und „christlich-jüdische | |
Zusammenarbeit“, Erinnerung an den Nationalsozialismus und die „negative | |
Symbiose“ (Dan Diner) zwischen Deutschen und Juden nach Auschwitz, | |
Generationenkonflikte und der säkulare Wandel der Gemeinde sowie andere | |
neuralgische öffentlich diskutierte Streitpunkte strukturieren diese | |
Interaktionsgeschichte zwischen Frankfurt und seinen Juden in der alten | |
Bundesrepublik. | |
Freimüllers „federführende“ Perspektive ist durch Frankfurter Publizisten | |
wie [5][Micha Brumlik], Dan Diner oder Cilly Kugelmann geprägt, die in den | |
1980er Jahren die „Jüdische Gruppe“ bildeten. Diese stand abseits zur | |
Jüdischen Gemeinde und entsprang dem Milieu der linken Protestbewegung, zu | |
der sie infolge von problematischen Positionen gegenüber Israel oder der | |
Auseinandersetzungen um [6][Reiner Werner Fassbinders] Theaterstück „Der | |
Müll, die Stadt und der Tod“ in Distanz geriet. | |
## Interessante Biografien | |
Auch den öffentlich sichtbaren liberalen Persönlichkeiten wie Paul | |
Arnsberg, Arno Lustiger oder Ignatz Bubis oder dem damals schrillen | |
Bürgerschreck Daniel Cohn-Bendit hat sich Freimüller an die Fersen | |
geheftet. Die Sichtweisen dieser engagierten Bürger und Intellektuellen, | |
weniger die des einfachen Gemeindemitglieds prägen daher das Bild. | |
Da Freimüllers Hauptprotagonisten allesamt auf eine spannungs- und | |
aufschlussreiche Vita als Zeitzeugen zurückblicken und kluge Analytiker | |
sind, schadet diese Grundierung dem Buch, das eben keineswegs eine | |
Gemeindegeschichte ist, natürlich nicht. Allein die atemberaubende | |
Geschichte der Familie Cohn-Bendit, gerade die der Eltern des Daniel | |
Cohn-Bendit zwischen Deutschland und Frankreich, hätte ein eigenes Buch | |
verdient. | |
Die Ereignisse der großen Geschichte spiegeln sich in solchen | |
außergewöhnlichen Lebensläufen, sodass der Titel auch „Die Welt, Frankfurt | |
und die Juden“ hätte heißen können. Das hätte wiederum eine | |
literarisch-ironische Nähe zu Fassbinders Skandalstück gehabt, das nach | |
Freimüllers Narration das Coming-Out der Jüdischen Gemeinde provozierte, | |
als sie 1985 die Aufführung des Lehrstücks über den jüdischen Spekulanten | |
durch eine Bühnenbesetzung verhinderte und selbstbewusst als öffentlicher | |
Akteur sichtbar wurde. | |
Die Zeit war reif dafür, denn schon im Jahrzehnt davor hatte man begonnen, | |
die Spuren des jüdischen Frankfurts zu rekonstruieren, etwa durch das | |
Jüdische Museum, das seit Anfang der 1980er Jahre in Planung war. 1986 | |
baute die Jüdische Gemeinde auch ein neues Gemeindezentrum, denn „wer ein | |
Haus baut, möchte bleiben“ (Salomon Korn) und nicht mehr wie die | |
Generationen davor mit gepackten Koffern leben. | |
Eine Erfolgsgeschichte? Rein äußerlich, gewiss. Freimüller zeigt aber auch | |
die Kosten, Nebenwirkungen, Verstörungen, Unzumutbarkeiten, die die | |
jüdischen Frankfurter nach dem Krieg im Zusammenleben mit ihren | |
nichtjüdischen Mitbürgern aushalten mussten. Zeitgeschichte und jüdische | |
Geschichte sind in Freimüllers 568 gesättigten Seiten über Frankfurt und | |
seine Juden in eine sinnvolle Verbindung miteinander getreten. | |
6 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.jg-ffm.de/ | |
[2] https://www.fritz-bauer-institut.de/mitarbeiterinnen-und-mitarbeiter/tobias… | |
[3] http://www.ifs.uni-frankfurt.de/institut/geschichte/ | |
[4] https://www.fritz-bauer-institut.de/ | |
[5] /Micha-Brumlik/!a35404/ | |
[6] /Zum-70-Geburtstag-Fassbinders/!5200610&s=der+m%C3%BCll+die+stadt+und+d… | |
## AUTOREN | |
Jörg Später | |
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