# taz.de -- Betroffene über Antisemitismus: Ein Mangel an Solidarität | |
> Der Antisemitismus in Deutschland ist groß. Eine neue Untersuchung hat | |
> die Sicht von Betroffenen ins Zentrum gestellt – mit erschreckendem | |
> Ergebnis. | |
Bild: Jüdisches Leben ist in Deutschland kaum sichtbar, die Anfeindungen noch … | |
Antisemitismus ist ein Problem der Antisemit(inn)en. Und ein Problem | |
mit Antisemit(inn)en. Der Soziologe Theodor W. Adorno brachte diese | |
Einsicht der Antisemitismusforschung schon 1951 auf den Punkt, als er in | |
der „Minima Moralia“ schrieb, Antisemitismus sei das „Gerücht über die | |
Juden“. | |
Antisemit(inn)en integrieren in ihre Projektionen willkürlich gewählte und | |
bar jeder Logik zugerichtete Mythen, Legenden, Zerrbilder, kurz gesagt: | |
Lügen über das Judentum, die jüdische Geschichte und die jüdische Kultur | |
oder über Jüdinnen und Juden. Insofern sagen antisemitische Stereotype | |
stets etwas über diejenigen aus, die sie formulieren, aber nichts über das | |
Judentum. | |
Gleichwohl fußen antisemitische Ressentiments auch auf manifestem Unwissen, | |
allerdings in einer spezifischen, geradezu inversen Form. Denn während | |
jene, bei denen der Antisemitismus bereits zum geschlossenen Weltbild | |
geronnen ist, für Argumente und Fakten und damit für Aufklärung | |
unzugänglich sind, ist der Weg zu diesem geschlossenen Weltbild immer | |
wieder konterkarierbar: durch den Hinweis darauf, dass antisemitische | |
Ressentiments falsch sind – und insofern jedes einzelne von ihnen | |
historisch, religiös, politisch, ökonomisch oder gesellschaftlich zu | |
widerlegen ist. | |
Die paradoxe Situation, die man kennt, wenn man es auch nur einmal versucht | |
hat, einem Verschwörungsgläubigen zu widersprechen, entsteht allerdings | |
dadurch, dass man im Einzelfall nie weiß: Ist das antisemitische Weltbild | |
bereits geschlossen und aufklärungsresistent – oder werden | |
unzusammenhängend einzelne Stereotype reproduziert, und die Person, die | |
dies vollzieht, wäre durch besseres Wissen auch eines Besseren zu belehren? | |
## Den antisemitischen Mythenhaushalt durchkreuzen | |
Gerade in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus bei Jugendlichen ist | |
dieser schmale Grat die Schlüsselherausforderung für jede pädagogische | |
Intervention. Und Beispiele, wie das Projekt „Meet a Jew“ des Zentralrates | |
der Juden zeigen auch, dass der antisemitische Mythenhaushalt, den Kinder | |
und Jugendliche aus ihren Elternhäusern mitbringen, durchaus im schulischen | |
Kontext real durchkreuzt werden kann: wenn diese im persönlichen Umgang | |
erleben und erfahren, dass das, was sie über Jüdinnen und Juden glauben | |
ressentimenthaft zu wissen, schlicht falsch ist. | |
Das Dilemma, das sich für die Präventionsarbeit gegen Antisemitismus daraus | |
ergibt, ist gleichwohl fundamental. Denn da Antisemitismus ein Problem der | |
Antisemit(inn)en ist, ist es auch genuin die Aufgabe der gesamten | |
Gesellschaft, diesen zu bekämpfen. Weil die bundesdeutsche Gesellschaft | |
dies aber nach wie vor viel zu wenig und in mangelnder Intensität in | |
Angriff nimmt, liegt mittlerweile eine erhebliche Aufgabe für jüdische | |
Institutionen darin, selbst die Antisemitismusprävention organisieren zu | |
müssen – da sie zum Gegenstand und Angriffsziel des Antisemitismus werden | |
und sich gegen diesen zur Wehr setzen. | |
Dass diese Wehrhaftigkeit viel zu selten Solidarität erfährt, hat jüngst | |
eine Studie von Katrin Reimer-Gordinskaya und Selana Tzschiesche gezeigt. | |
In ihrer Untersuchung „Antisemitismus, Heterogenität, Allianzen“, bei der | |
es sich um eine qualitative Ergänzung zum Berlin-Monitor handelt, betreten | |
die Autorinnen wissenschaftliches Neuland: sie ergründen erstmals in | |
umfassender Weise die Sicht der von Antisemitismus Betroffenen. | |
Denn während die empirische Forschung den Blick auf antisemitische | |
Einstellungen legt, werden hier Erkenntnisse über die Wahrnehmung von | |
Antisemitismus im Alltag von Jüdinnen und Juden zusammengetragen. Die | |
Ergebnisse der in Berlin durchgeführten Untersuchung sind erschreckend – | |
und sie wären vermutlich noch erschreckender, würde man die Untersuchung | |
auf das ganze Bundesgebiet ausweiten. | |
## Antisemitismus in Deutschland, eine Black Box | |
Denn dank der Arbeit zahlreicher zivilgesellschaftlicher Initiativen, allen | |
voran der dokumentarischen Arbeit der Recherche- und Informationsstelle | |
Antisemitismus (RIAS), ist das Wissen über den tatsächlichen Antisemitismus | |
in Berlin weit umfangreicher als im Rest der Republik. Und so ist in Berlin | |
das Dunkelfeld antisemitischer Taten inzwischen deutlicher stärker erhellt | |
als im Rest der Republik – der weitgehend bis heute eine real existierende | |
Black Box für das Wissen über antisemitische Taten und | |
Alltagsdiskriminierungen ist. | |
Die Untersuchung von Reimer-Gordinskaya und Tzschiesche zeigt nun sehr | |
deutlich, dass Antisemitismus von Jüdinnen und Juden in Berlin in allen | |
Lebensbereichen erfahren wird und ein Mangel an Solidarität von Nichtjuden | |
wahrgenommen wird, sich gegen Antisemitismus zu positionieren und Jüdinnen | |
und Juden zu stärken. | |
Die Umgangsweisen der von Antisemitismus Betroffenen erfolgt oft | |
individualisiert und defensiv, zugleich gibt es aber eben auch sehr viel | |
Engagement innerhalb der jüdischen Community, sich offensiv zu wehren, | |
indem professionelle Strukturen geschaffen wurden. | |
Die zentrale Defizitwahrnehmung der Berliner Jüdinnen und Juden besteht der | |
Studie zufolge darin, in allen Lebensbereichen eben nicht ohne | |
Einschränkung, ohne Diskriminierung und damit nicht selbstbestimmt leben zu | |
können. Antisemitische Aggressionen gehen dabei von fast allen | |
Bevölkerungsgruppen aus, wobei die Aggressionen von non-verbalen Gesten, | |
Kommentaren, Beleidigungen bis zu körperlichen Angriffen reichen. | |
## Jüdinnen und Juden werden in Kollektivhaftung genommen | |
Oft äußern sich antisemitische Ressentiments dabei über einen – in | |
Anlehnung an die Überlegungen von Werner Bergmann und Rainer Erb zur | |
„Kommunikationslatenz“ formuliert – „kommunikativen Umweg“ gegenüber | |
Israel: in antiisraelischem Antisemitismus und Ressentiments, bei denen | |
Jüdinnen und Juden in Kollektivhaftung für die Politik des Staates Israel | |
genommen werden. | |
Vor dem Hintergrund des antisemitischen Terroranschlags in Halle im | |
vergangenen Jahr macht dies eine Kehrseite des defizitären Umgangs mit | |
Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft deutlich: Neben der | |
fortwährend zu garantierenden Sicherheit für Jüdinnen und Juden bedarf es | |
unverzichtbar der alltagskulturellen Solidarität. Solidarität darf dabei | |
freilich nicht als Floskel missverstanden werden, sondern sie bedarf eines | |
dringenden Klärungsprozesses. | |
Denn oftmals wird Jüdinnen und Juden in Deutschland die Solidarität, gerade | |
auch aus progressiven Milieus, verweigert, wenn es um antiisraelischen | |
Antisemitismus geht. Deshalb bleibt diese Frage auch der Lackmustest des | |
Kampfes gegen Antisemitismus: Zweifelsfrei basieren zentrale Momente des | |
bundesdeutschen Antisemitismus bis heute auf einer Erinnerungsabwehr, einer | |
Täter-Opfer-Umkehr und damit einem schuldabwehrenden Antisemitismus. | |
## Kommunikative Umwege des Ressentiments | |
Gleichsam sind es eben die seit Jahrzehnten etablierten „kommunikativen | |
Umwege“, bei denen sich der antiisraelische Antisemitismus aufgrund dessen, | |
dass er öffentlich kaum sanktioniert wurde und wird, zu einer globalen | |
Integrationsideologie entwickelt hat. Einem weltanschaulichen Kitt, mit dem | |
Allianzbildungen zwischen politischen Milieus real geworden sind, die in | |
anderen Fragen fundamental verfeindet sind. | |
Der Mangel an Solidarität mit Jüdinnen und Juden im Alltag hat insofern im | |
doppelten Sinn etwas damit zu tun, dass eine ernsthafte Aufarbeitung der | |
Vergangenheit nicht stattgefunden hat. Denn weder wurde die | |
NS-Vergangenheit bezüglich der Frage der Täter/innenschaft der eigenen | |
Großeltern oder, mittlerweile, Urgroßeltern in den Blick genommen, noch | |
hat die verschobene Erinnerungsabwehr in der bundesdeutschen | |
Nachkriegsgeschichte, bei der sich der Antisemitismus im [1][Selbstglauben | |
einer moralischen Überlegenheit gegen Israel] gewandt hat, zu ernsthaften | |
Formen selbstkritischer Auseinandersetzung geführt. | |
Diese Verdopplung der Erinnerungsabwehr macht den Kampf gegen | |
Antisemitismus so schwer, weil an seinem Anfang eine gehörige Portion | |
Einsicht und damit Fähigkeit und Willen zur Selbstkritik stünde. Denn genau | |
diese Selbstkritikfähigkeit, die auf einer Fähigkeit, abstrakt zu denken | |
und konkret zu fühlen basiert, wird im antisemitischen Weltbild | |
suspendiert. | |
Gelänge es, dies zu durchbrechen, dann könnte das kommende Jahr, in dem in | |
Deutschland an zahlreichen Orten viele Veranstaltungen zu 1.700 Jahren | |
jüdischen Lebens stattfinden werden, vielleicht zum Jahr der Solidarität | |
gegen Antisemitismus werden. | |
22 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Samuel Salzborn | |
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