# taz.de -- Postkoloniale Theoretiker: Leerstelle Antisemitismus | |
> Die Verdienste postkolonialer Forschung sind groß. Doch die Causa Achille | |
> Mbembe zeigt, dass sie das Wesen des Antisemitismus verkennt. | |
Scharfe Kritik hat die Einladung von [1][Achille Mbembe] als | |
Eröffnungsredner der nun abgesagten Ruhrtriennale nach sich gezogen. Felix | |
Klein, Antisemitismusbeauftragter des Bundes, wirft dem kamerunischen | |
Historiker Holocaust-Relativierung vor; eine Kritik, der sich | |
FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube später anschloss. In Mbembes „Politik der | |
Feindschaft“ finden sich Zitate, die die israelische Palästinenserpolitik | |
mit der Apartheid Südafrikas vergleichen. | |
Außerdem zieht er das Prinzip „Auge um Auge“ aus dem Alten Testament als | |
Ursprung der „Zerstörungsideologien“ auf der Welt heran – und macht damit | |
wieder das Judentum verantwortlich für alles Unheil. Mbembe selbst wies in | |
der Zeit die Vorwürfe mit leichter Hand zurück: Er verspüre „nicht die Spur | |
von Groll oder Vorurteil gegen irgendjemanden“. Auffällig oft hebt er | |
hervor, wie sehr seine Schriften von jüdischen Denkern beeinflusst seien, | |
um schließlich einzuräumen, dass seine Forschung sich nicht mit dem | |
Holocaust beschäftige, ebenso wenig „mit Israel […] noch mit seinem Recht | |
auf Existenz und Sicherheit“. | |
Nimmt man ihm die jüdischen Kronzeugen (à la „viele meiner Freunde sind | |
Ausländer“) noch ab, fragt man nach der Basis seiner Fundamentalkritik an | |
Israel, die im selben Satz ihren kompletten Mangel an Expertise eingesteht | |
– ganz unabhängig davon, ob das Existenzrecht von Staaten überhaupt | |
Gegenstand seriöser Forschung sein kann. | |
## Causa Mbembe zeigt ein tieferliegendes Problem | |
Ohne Zweifel verdient die aktuelle israelische Regierungspolitik scharfen | |
Widerspruch, auch viele Israelis folgen ihr nurmehr mit Verzweiflung. | |
„Israelkritik“ vom Zuschnitt Mbembes entspringt jedoch gänzlich anderen | |
Bedürfnissen: Für sie ist nicht die israelische Politik von Scharon bis | |
Netanjahu das Problem, sondern die schiere Existenz des Judenstaats. Die | |
Causa Mbembe weist daher auf ein tieferliegendes Problem hin, ein Problem | |
jenes Teils der Rassismus- und Kolonialismusforschung, der sich den | |
Postcolonial Studies verpflichtet fühlt: ihre Unfähigkeit, Antisemitismus | |
als Problem ernst zu nehmen. Dieser wird dort ganz überwiegend als „nur | |
eine andere Form von Rassismus“ verstanden – während durch die | |
fortgesetzte, völlig unreflektierte Dämonisierung Israels antisemitische | |
Denkstrukturen reproduziert werden. | |
Niemand leugnet die [2][Verdienste postkolonialer Forschung]. Dank | |
Theoretikern von Frantz Fanon über Gayatri Spivak und Edward Said bis | |
Achille Mbembe ist das Nach- und Hineinwirken der Kolonialgeschichte in die | |
Struktur und den Alltag unserer Gesellschaft erforscht worden: Deutsche | |
Straßen, mit denen Sklavenhändler geehrt werden; der Unwille, den | |
Völkermord an den Herero und Name anzuerkennen (oder auch nur das N-Wort | |
aus Kinderbüchern zu streichen); eine deutsche Drogeriekette, die Afrohaare | |
als „Wucherfrisur“ bezeichnet – Mbembe nennt diese Form von Rassismus | |
treffend „Nanorassismus“, den „ganz banalen Rassismus, dem es gelungen is… | |
sich allenthalben auszubreiten und in alle Poren und Adern der Gesellschaft | |
einzudringen“. | |
In Zeiten, in denen rassistisches und rechtes Gedankengut tödliche Ausmaße | |
annimmt, sind Analysen, die die koloniale Herkunft dieser Bilder | |
reflektieren, von ungebrochener Brisanz. | |
Doch ebenso, wie Rassismus auch da benannt werden muss, wo er nicht | |
offensichtlich ist, muss Antisemitismus angesprochen werden, wenn er sich | |
unter geehrten postkolonialen Theoretikern artikuliert. Erinnert sei an | |
eine andere deutsche Ehrung 2012, als die postkolonial inspirierte | |
Gender-Forscherin Judith Butler den Adorno-Preis erhielt. Butler, selbst | |
Jüdin, ist bekannt für ihr Engagement in der Israel-Boykottbewegung BDS; | |
unter anderem nannte sie die islamistische Hamas aufgrund ihres erklärten | |
Antiimperialismus einen „Teil der globalen Linken“. Ein Preis, benannt nach | |
einem der bedeutendsten Antisemitismuskritiker, in den Händen eines | |
Hamas-Fans? | |
## Parteinahme gegen Israel | |
In den Postcolonial Studies scheint die einseitige Parteinahme gegen Israel | |
so normal, dass auch absurde Positionen als legitim gelten. So fühlt Mbembe | |
mit palästinensischen Selbstmordattentätern mit: „Der Märtyrer in spe sucht | |
nach einem glücklichen Leben.“ Jeder Anschlag mit „einigen Toten“, so | |
Mbembe, führe „automatisch zu einer Trauer, die sich wie auf Befehl | |
einstellt“. | |
Gayatri Spivak definiert Israel als „Kolonialstaat“, sieht „in Palästina… | |
nur „territorialen Imperialismus und Staatsterrorismus alter Prägung“ am | |
Werk – und zeigt ebenfalls Verständnis für Selbstmordattentate, denen sie | |
das emanzipatorische Ansinnen unterstellt, „Normalität kollektiv verändern�… | |
zu wollen. Edward Said, selbst palästinensischer Herkunft, lehnte das | |
Osloer Friedensabkommen kategorisch ab und unterstellte Israel, die | |
Palästinenser als Volk („people“) auslöschen zu wollen. | |
Allen diesen Forschern ist gemein, dass sie die Gründung Israels als | |
Kolonialprojekt bewerten – und oft mindestens Verständnis für | |
Selbstmordattentate zeigen. Bei derart kritischen Geistern, die selbst | |
unbedachte Alltagsäußerungen auf ihr mikroaggressives Potenzial | |
analysieren, muss zunächst einmal ganz grundsätzlich auffallen, wie | |
freimütig sie tödliche Aggression gegen schutzlose Zivilisten – in diesem | |
Fall Juden – ohne großes Wenn und Aber rechtfertigen. Liegt dies an einem | |
grundsätzlichen Konstruktionsfehler der Postcolonial Studies? Die meisten | |
ihrer Theoretiker verstehen sie nicht nur als Wissenschaft, sondern auch | |
als Widerstandsform. Gegenwärtige Formen von Hegemonie und Abhängigkeiten | |
werden als Neokolonialismus kritisiert. | |
## Erzwungene Identitäten | |
Gründungsvater Fanon warnte noch vor „essenzialisierendem Denken“, das die | |
koloniale Weltordnung überhaupt erst hervorgebracht habe und auch nach | |
ihrer Aufhebung weiterwirke: Postkoloniale Gesellschaften sollten sich | |
daher nicht positiv auf ihre von den alten Herren erzwungene Identität | |
beziehen, sondern eine völlig neue, emanzipierte Identität hervorbringen. | |
Gegenwärtige Postcolonial Studies sind davon jedoch oft weit entfernt: Eine | |
manichäische [3][Spaltung der Welt in einen „globalen Norden“ und einen | |
„globalen Süden“], in Unterdrücker und Unterdrückte, reduziert die kompl… | |
Weltlage auf einfache binäre Widersprüche, in denen es nichts Drittes, | |
nichts Ambivalentes geben darf. Israel wird dabei umstandslos den | |
Unterdrückern zugeschlagen; nicht ein Gedanke wird darauf verwendet, dass | |
die Gründung des Staates auf jahrhundertelange Verfolgung, von den Pogromen | |
in Russland und Polen bis zur Schoah zurückzuführen ist. Jüdische | |
Flüchtlinge und Überlebende steigen in dieser Lesart zu mächtigen | |
Kolonialherren auf; die Gründung des Staats wird als Geburtsstunde der | |
„neokolonialen Ära“ verstanden. | |
Es ist kein Zufall, dass im Intersektionalitätskonzept der Postcolonial | |
Studies Antisemitismus oft nur als eine Unterform des Rassismus gilt. Das | |
Einzigartige am Antisemitismus findet sich in keiner Darstellung der | |
Postcolonial Studies, widerspricht er doch der binären Aufteilung der Welt | |
in Unterdrücker und Unterdrückte. | |
## Antisemitismusvorwurf wird beiseitegewischt | |
Im Gegensatz zum Rassismus geht Antisemitismus nicht von der | |
Minderwertigkeit bestimmter Personengruppen aus, sondern umgekehrt von | |
ihrer Überlegenheit, ihrer Macht und Schläue. Der Antisemit sieht sich | |
gerade selbst als Opfer, nämlich einer Unterdrückung durch Juden; er glaubt | |
sich in einer Position der Schwäche und hält sein Handeln für Notwehr. | |
Theorien, die Antisemitismus lediglich als Diskriminierung aufgrund | |
„jüdischer“ Merkmale betrachten, müssen daran ebenso scheitern wie solche, | |
die sich unterdrückt wähnende Personengruppen automatisch im Recht wissen. | |
In einem Milieu, in dem es gute Sitte geworden ist, zunächst einmal | |
Betroffenen Glauben zu schenken, alle Vorwürfe von Diskriminierung zunächst | |
einmal ernst zu nehmen, wird oft mit aberwitziger Schnelle der | |
„Antisemitismusvorwurf“ als „Vorwand“ beiseitegewischt. Es ist dann mehr | |
als nur bezeichnend, dass solche Argumente in einer deutschen Gesellschaft | |
dankbar angenommen werden, die die Aufarbeitung der Vergangenheit als | |
abgeschlossen sieht und sich keine weiteren Fragen mehr gefallen lassen | |
möchte, sondern vielmehr dem Staat der Verfolgten Moralpredigten hält. | |
Wollen sich postkoloniale Theoretiker nicht von solchen sehr deutschen | |
Bedürfnissen instrumentalisieren lassen, müssen sie einen Begriff von | |
Antisemitismus bilden, der über eine Variation von Rassismus hinausreicht, | |
ihn genuin gesellschaftstheoretisch definiert und aus wohlfeilen binären | |
Aufteilungen der Welt in Gut und Böse heraushält. Überdies muss endlich | |
anerkannt werden, dass „Israelkritik“ allzu oft ein Ventil für solche | |
Ressentiments darstellt – weit entfernt von legitimer Empörung über | |
aktuelles israelisches Regierungshandeln. | |
Wenn es den postkolonialen Wissenschaften nicht gelingt, diesen | |
überkommenen Essenzialismus aufzugeben, machen sie sich tatsächlich zum | |
zweiten Mal abhängig von Ex-Kolonialherren. Tatsächlich wäre wenig | |
vorstellbar, was so kolonial wäre wie deutsche Israelfeinde, die sich zur | |
Legitimation ihrer Abneigung Schützenhilfe aus Südafrika einfliegen lassen. | |
Auch in dieser Hinsicht wäre eine Dekolonisierung der Debatte dringend | |
geboten. | |
25 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Saba-Nur Cheema | |
Meron Mendel | |
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