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# taz.de -- Diskussion um Historiker Mbembe: Suche nach Eindeutigkeit
> In der Debatte um den Antisemitismus-Vorwurf gegen Achille Mbembe
> dominiert klassisches Lagerdenken. Mehr Ambivalenz wäre angebracht.
Bild: Der Schriftsteller Achille Mbembe
Die Diskussion über möglichen israelbezogenen Antisemitismus und
Holocaustrelativierung durch unpassende Vergleiche des Philosophen Achille
Mbembe zieht weite Kreise. Nach Attacken auf Mbembe formieren sich nun
seine Verteidiger, fordern gar [1][den Rücktritt des
Antisemitismusbeauftragten] der Bundesregierung, der die Diskussion ins
Rollen gebracht hat.
Die taz hat die Debatte mit mehreren Essays weniger aufgeregt, mit
überwiegend sachlichem Ton geführt. Doch obwohl die geäußerten Standpunkte
sich vom Debattenniveau zu Mbembe in den sozialen Medien spürbar abheben,
dokumentieren auch sie abgeschwächt das gleiche Problem, das seit langem
die Positionierungen der Nahost- und Antisemitismusdiskussion prägt.
Was sich in dieser wieder und wieder zeigt, ist eine Logik der dezidierten
Parteinahme und eine Suche nach Eindeutigkeit in der analytischen und
ethischen Einordnung von Ereignissen oder Personen. Sie führt dazu, dass
Mbembe meist entweder diskreditiert oder umfassend in Schutz genommen wird.
Nicht zufällig erinnert das an die sonstigen Parteinahmen für Israel oder
die Palästinenser*innen, die immer mit stärksten sprachlichen Waffen
aufwarten (nicht selten NS-Assoziationen).
Abgesehen von in dieser Debatte mittlerweile zum entschuldigenden Grundton
gehörenden floskelhaften Minimal-Distanzierungen wie „Wir teilen nicht alle
seine Standpunkte“ oder „Manche von uns stehen so, andere so zu BDS“ lass…
sich die meisten Beiträge doch einem der antagonistischen Lager zuordnen.
Dies verrät uns einiges über die Besonderheiten dieses Diskursfelds. In
Politik und der Zivilgesellschaft wie in der Wissenschaft gibt es kaum
einen fruchtbaren, erkenntnisfördernden Wettstreit über verschiedenen
Sichtweisen auf die vertrackte Sache, eher Markierungen von Gegner*innen
und Bundesgenoss*innen. Alle handeln im diskursiven Grabenkrieg, als gelte
es, keinen Meter Land zu verlieren und für jeden Meter Landgewinn alle
Waffen aufzufahren.
Unsicherheit, (korrigierbare) Fehler, Mehrdeutigkeit – dafür ist kein Platz
an der Frontlinie. Welcher Mensch, welcheR Denker*in sollte dem dieser
Diskussion offenbar zugrundeliegenden Reinheitsideal genügen können? Ist es
denkbar, dass Mbembe ein wichtiger Theoretiker ist und trotzdem Dinge in
seinem Denken zu kritisieren sind – ohne ihn deswegen gleich zu
desavourieren?
## Radikale Parteinahme
Diese tendenziell umfassende Parteinahme und Eindeutigkeit in den
gesprochen Urteilen – ich habe sie in meinen Forschungen über die
politische Linke „radikale Identifikation“ genannt – erstaunt. Denn kaum
ein Konflikt ist aufgrund seiner Dauer, seiner internationalen wie
regionalen Bedeutung, seiner real- und erinnerungspolitischen, religiösen,
wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Bezüge so komplex und verworren
wie der israelisch-palästinensische. Eine einfache Parteinahme für eine der
Seiten, wenn sie als „Israel“ vs. „die Palästinenser*innen“ gedacht we…
oder in ihrer Verdopplung als weltweite Solidaritätslager, verbietet sich
geradezu. Warum?
Dazu haben viele Beteiligte durchaus Gehaltvolles beigetragen. Ja, Mbembe
bedient sich in seinen Kritiken an Israel einer teilweise hoch
problematischen Sprache, die Anklänge an Muster hat, deren sich auch
antisemitische Texte bedienen. Er greift zu stärksten sprachlichen Bildern,
um seine Abscheu gegenüber der Besatzungspolitik Israels auszudrücken.
[2][Saba-Nur Cheema und Meron Mendel] weisen zu Recht auch darauf hin, dass
Teile der Postcolonial Studies hier womöglich zu wenig sensibel und
theoretisch versiert sind. Aber die Kritik trifft vielleicht mehr die
Aneignung dieses Diskurses in politischen Alltagspraxen von Teilen der
Critical-Whiteness-Szene mit ihren umgekehrten Essenzialisierungen als die
Breite dieses Faches.
Vor allem gilt umgekehrt das Gleiche, worauf schon vor vielen Jahren der
britische Soziologe Robert Fine hingewiesen hat: Die Forschung zu Rassismus
und Antisemitismus findet noch überwiegend voneinander isoliert statt.
Statt sich gegenseitig zu bereichern, verdoppelt die Wissenschaft die
Opferkonkurrenz, die derzeit vor allem zwischen Betroffenen von
Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus immer wieder aufscheint.
## Der Sprechort als Faktor
Die Verteidiger*innen Mbembes konzentrieren sich auf dessen unbestrittene
Leistungen für die Postcolonial Studies und die Rassismusforschung und
kontextualisieren sein Denken. Sie rücken die gröbsten Unrichtigkeiten der
Angriffe gerade, beispielsweise Cheemas und Mendels Vorwurf, Mbembe richte
sich gegen „die schiere Existenz des Judenstaats“ – auch gegen dessen
explizite und völlig gegenteilige Stellungnahme [3][in der Zeit].
Zugleich verweist die Verteidigung auf den Sprechort Mbembes, der in
Südafrika lehrt, und damit auf vergleichbare Sprechorte anderer
Theoretiker*innen des Postkolonialismus. Israel und der Apartheidstaat
hatten enge Beziehungen, die auch durch rassistische und militaristische
Aspekte geprägt sind. Dieser Kontext ist bedeutsam. Mbembes kritisierte
Vergleiche mögen überzeugen oder auch nicht. Der Apartheid-Vorwurf
beispielsweise ist unhaltbar im Hinblick auf die Lage der israelischen
Araber*innen.
Anders sieht schon die Situation in den besetzten Gebieten aus. Ganz sicher
trägt sein eher en passant erfolgender Vergleich zwischen der
südafrikanischen Apartheid und dem nationalsozialistischen Judenmord nicht.
Doch diese Bemerkung im Einklang bestenfalls mit der völlig vagen und
widersprüchlichen, aber derzeit trotzdem hoch populären
Antisemitismusdefinition der International Holocaust Rememberance Alliance
als Beleg für Antisemitismus und Holocaustrelativierung zu werten, ist
gewagt.
Aber es bleibt eine Leerstelle, die aus der Entkopplung dieser Diskurse
folgt. Zu den aus antisemitismuskritischer Sicht nichtsdestotrotz
bleibenden Problemen schweigen Mbembes Verteidiger jedoch oder tun sie als
unseriös ab. Dies gilt für den [4][Solidaritätsaufruf von
Wissenschaftler*innen] und noch mehr für [5][Dominic Johnsons Kommentar]
zum Werkhintergrund des Philosophen.
So verständlich die Position der geschlossenen Reihen ist, wenn man sich
die Grabenkriegssituation der Debatte und die zunehmende Verrechtlichung
und Versicherheitlichung der ganzen Diskussion durch die Implementierung
der IHRA-Antisemitismusdefinition und die verschiedenen Anti-BDS-Beschlüsse
vor Augen hält, so wenig kann man sich damit abfinden.
## Widerspruch und Dilemma
Denn der eigentliche Gegenstand des Streits, nicht Mbembe, sondern der
Nahostkonflikt und seine Deutung, ist viel zu ambivalent, um einfache
Positionierungen zuzulassen. Cheema und Mendel finden es beispielsweise
inakzeptabel, wenn mit Nachdruck (sicher oft zu viel Nachdruck) auf die
kolonialen Aspekte Israels hingewiesen wird. In ihrer Antwort versuchen
[6][Amos Goldberg und Alon Confino] wiederum genau diesen Aspekt des
Zionismus zu betonen, der in der deutschen, geschichtspolitisch
überdeterminierten Wahrnehmung Israels als Folge des Holocaust nicht im
Zentrum steht. Dieser Widerspruch verdeutlicht das ganze Dilemma in a
nutshell.
Denn beides stimmt mehr oder weniger. Israel ist ebenso Konsequenz
antisemitischer Verfolgung, also Zufluchtsort und mittlerweile schlicht
Heimat, wie der Zionismus Aspekte eines Siedlerkolonialismus hatte und noch
hat. Aus progressiver Sicht folgt daraus Empathie und Kritik. Die Suche
nach Eindeutigkeit lässt oft nur eines davon zu. Ähnlich ließe sich
übrigens für die „andere Seite“ argumentieren.
Palästinenser*innen kämpfen zu Recht gegen Besatzung und sind doch
teilweise anfällig für Antisemitismus, verantwortlich für Terror gegen
Israelis – sicher ebenso aus Verzweiflung wie aus Verblendung. Doch so
betrachtet werden Abwägungen zu den Konfliktparteien und ihren
Unterstützer*innen graduell, lassen sich Urteile nur in der
Widersprüchlichkeit ihres Gegenstand bilden. Doch in der Debatte dominiert
„Antisemitismus“, „Ausladen“ und „Rücktritt“ – oder Verteidigung…
dazwischen und quer dazu erlaubt dieser Diskurs offensichtlich noch immer
nicht.
5 May 2020
## LINKS
[1] https://de.scribd.com/document/459345514/Call-on-German-Minister-Seehofer
[2] /Postkoloniale-Theoretiker/!5678482/
[3] https://www.zeit.de/2020/18/antisemitismus-achille-mbembe-vorwuerfe-holocau…
[4] https://www.dropbox.com/s/idp56qbs3wh4k05/Aufruf%20-%20Solidarit%C3%A4t%20m…
[5] /Debatte-um-Achille-Mbembe/!5679782/
[6] /Debatte-ueber-den-Denker-Achille-Mbembe/!5679420/
## AUTOREN
Peter Ullrich
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