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# taz.de -- Nachruf auf Albert Memmi: Europa und seine Nachbarn
> Der Urvater des Postkolonialismus wurde durch seine Streitschrift
> „Portrait des Kolonisierten“ berühmt. Jetzt ist er mit 99 Jahren in Paris
> gestorben.
Bild: Albert Memmi, 1976
Berlin taz | Wenn ein Leben die ganze Tragik und den ganzen Reichtum der
Beziehungen zwischen Europa und seinen Nachbarn widerspiegelt, ist es das
von Albert Memmi. Der große Schriftsteller und Essayist entzog sich jeder
Definition: ein Jude mit Arabisch als Muttersprache, ein Tunesier mit
Heimat in Paris, ein radikaler und zugleich konservativer Kritiker der
Zustände der Welt.
In Deutschland wurde Memmi durch seinen Erstlingsroman „Salzsäule“ aus dem
Jahr 1953 bekannt, der nach der von Jean-Paul Sartre ermöglichten
Veröffentlichung mit Preisen überschüttet wurde. Es ist eine
autobiografisch geprägte Geschichte aus dem kolonialen [1][Tunis], wo Enge
und Vielfalt koexistierten. Der Protagonist trägt einen französischen
Vornamen, einen jüdischen Zweitnamen und einen Berber-Nachnamen, er gehört
nirgendwo dazu, sein Leben ist eine „Serie von Brüchen“.
Albert Memmi kam am 15. Dezember 1920 in einfachsten Verhältnissen zur
Welt, Sohn des Sattlers Fraji Memmi im jüdischen Ghetto von Tunis und
dessen Berber-Ehefrau Maira Serfati; seinen französischen Vornamen gab ihm
der Chef des Vaters, er lernte zu Hause Dialekt-Arabisch und Hebräisch,
erst in der Schule folgte Französisch. Sein Philosophiestudium in Algier
beendeten die Behörden Vichy-Frankreichs, nach Kriegsende ging er an die
Pariser Sorbonne und heiratete eine Französin.
1949 zurück in Tunis, leitete Memmi ein Zentrum für Kinderpädagogik und
engagierte sich in tunesischen Medien, doch nach der Unabhängigkeit 1956
unter einem nationalistischem Regime zog er zurück nach Frankreich. Bis zum
Schluss lebte das Ehepaar in derselben mit Büchern vollgestopften Pariser
Wohnung, und Memmi wurde eine der großen Stimmen der Pariser Weltkultur.
Brillanteste Darstellung des kolonialen Totalitarismus
Berühmt wurde auch seine Streitschrift „Portrait des Kolonisierten“ (1957).
Der kleine Essay ist bis heute die brillanteste Darstellung des kolonialen
Totalitarismus. Memmi erinnert zunächst an eine einfache Tatsache: Die
Kolonisierten können es sich nicht aussuchen; ihr ganzes Leben und ihre
Identität sind fremdbestimmt. Nicht einmal die eigenen Erinnerungen werden
ihnen gelassen. Akteure des eigenen Schicksals zu sein ist ihnen verboten.
Sie haben bloß die Wahl zwischen „Assimilierung und Versteinerung“, solange
die Kolonialherrschaft andauert.
Aber die sei historisch gescheitert: „Die Kolonisierung hat den Kolonisator
vergiftet und den Kolonisierten zerstört.“ Fast ein halbes Jahrhundert
später, im Jahr 2004, zog Memmi in dem Essay „Portrait des Dekolonisierten“
eine düstere Bilanz der nachkolonialen Ära. Aber kein einziges Wort von
1957 werde er zurücknehmen, stellte er in einem Interview klar. Natürlich
schafft das Ende der Kolonialherrschaft allein keine glücklichen Menschen:
„Die Entkolonisierung war notwendig, aber sie war eine bittere Frucht
voller Trauer.“
Am 22. Mai ist Albert Memmi, fast 100 Jahre alt, in Paris gestorben. In
einer Zeit, [2][wo das postkoloniale Denken in Deutschland mit der
Unterstellung des Antisemitismus diskreditiert werden soll], muss an diesen
Urvater des Postkolonialismus erinnert werden, an diesen nordafrikanischen
Juden, der sich keinen Fundamentalisten und Identitären beugte.
Selbsterkenntnis ist der von Memmi festgehaltene erste Schritt zur
Emanzipation, unter Fremdherrschaft ist er lebensgefährlich. In den Worten
des Protagonisten der „Salzsäule“: „Ich sterbe, weil ich mich nach mir
selbst umgewandt habe. Es ist verboten, sich selbst anzublicken, und ich
habe mich schließlich selbst erkannt. Kann ich noch weiterleben über diesen
Blick hinaus?“
27 May 2020
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## AUTOREN
Dominic Johnson
## TAGS
Postkolonialismus
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