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# taz.de -- Postcolonial Studies und Herrschaft: Mächtige Mentalitäten
> Die Gewaltstruktur des Kolonialismus wird bis heute verinnerlicht, auch
> von ehemals Kolonisierten. Das postkoloniale Zeitalter ist noch nicht
> erreicht.
Bild: Die Reinwaschung von Jean-Baptiste Colbert klappt wegen seinen Regeln zur…
„Der einzige Postkolonialismus, den ich kenne, ist das Postamt.“ Diese
saloppe Bemerkung, so wird kolportiert, stammt von dem ugandischen
Sozialwissenschaftler Mahmood Mamdani. Tatsächlich leben wir keinesfalls in
nachkolonialen Zeiten. Während die direkte physische Fremdherrschaft
mittlerweile auf wenige Territorien der Erde beschränkt ist, hat sich die
koloniale Wirkmacht auf Mentalitäten, Normen, Wertsysteme und davon
geleitete Verhaltensweisen und Legitimationsmuster verlegt. Rassismus und
andere Formen von Ausgrenzung und Benachteiligung bleiben Bestandteile
eines weltweiten Kolonialsystems.
Das Perfide daran ist, dass dies nicht nur für die Nachfahren der
Kolonisatoren gilt, sondern auch für die der ehemals Kolonisierten. Nun
wäre es schwierig, dies alles unter Colonial Studies zu subsumieren, die
als Teildisziplin Formen direkter Fremdherrschaft zum Hauptgegenstand
haben. So haben die Postcolonial Studies eine gesonderte Beschäftigung mit
den kolonialen Folgen begründet; wohlgemerkt im Plural, denn „der
Postkolonialismus“ ist eine ebenso krude Vereinfachung wie „der
Kolonialismus“ und dient bestenfalls zur Umschreibung des kleinsten
gemeinsamen Nenners.
Postcolonial Studies analysieren keinesfalls nur White Supremacy als
Fortsetzung westlicher Dominanz und ihrer eurozentrischen Perspektiven. Das
hat schon Frantz Fanon mit „Die Verdammten dieser Erde“ 1961 klargestellt.
Auch Edward Saids Orientalism (1978) sowie die Studien von Ashis Nandy
gehören zu den Grundlagenwerken. Nandys Analyse Indiens ist – doppeldeutig
– mit The Intimate Enemy (1983) betitelt. Sie handelt von der Fortsetzung
kolonialer Mimikry, ihrer Denk- und Verhaltensmuster und deren andauernder
Wirkmacht.
Eigentlich sollte es eine Binsenweisheit sein, dass „der Postkolonialismus“
eine bunte Mischung unterschiedlicher Denkansätze und Perspektiven zu
diversen Themen ist, die nicht prinzipiell gegen antisemitische Tendenzen
gefeit sind. Doch um Differenzierungen ist es in politisch motivierten
Polemiken meist eher schlecht bestellt. Dabei würde ein Blick auf die
internen Diskussionen über Konzepte von Subaltern Studies, Agency oder
Post-Development schon zum Verständnis genügen, dass unterschiedliche bis
gegensätzliche Sichtweisen und Standpunkte – oftmals wenig zimperlich –
verhandelt werden. Und dass es keineswegs so einfach mit Vereinfachungen
ist.
## Ein Nie Wieder gegen genozidale Denkmuster
Die Kritik an dem kamerunischen Historiker [1][Achille Mbembe] und „dem
Postkolonialismus“ aber ist dessen ohnehin nicht gewahr oder gänzlich
anders motiviert. Sie lenkt von den Blindstellen europäischer
Gewaltgeschichte ab, indem sie die Forderungen nach ihrer Bearbeitung als
[2][tendenziell antisemitisch] verunglimpft. Denjenigen, die dies fordern,
wird vorgeworfen, sie würden den Holocaust verharmlosen, weil sie die
Schoah auf ein Verbrechen unter vielen reduzierten.
Dabei kommt es den Kritiker*innen kaum in den Sinn, das Holocaust-Trauma
als Verantwortung zu begreifen, um im Sinne des Never Again gegen jede Form
von Diskriminierung, Rassismus und Gewalt Position zu beziehen (was auch
eine Kritik an Menschenrechtsverletzungen durch den Staat Israel verlangt).
Nicht nur aus Empathie oder Solidarität mit den Betroffenen, sondern weil
es gilt, das „Nie wieder“ als (Selbst-)Verpflichtung ernst zu nehmen.
Genozidale Denk- und Handlungsweisen sind ja nicht durch exklusive
Auseinandersetzung mit dem Holocaust bewältigt und ausgeräumt.
Dass die Forderungen nach einem angemessenen Umgang mit deutscher
Gewaltgeschichte im Kolonialismus und mit anderen NS-Kriegsverbrechen und
„Ausmerzungsstrategien“ (wie gegen „minderwertiges Leben“, Sinti und Ro…
Homosexuelle und People of Colour) als antisemitisch diskreditiert werden,
deutet auf eine Radikalisierung in der öffentlichen Auseinandersetzung.
Diese würde in letzter Konsequenz auch verlangen, von Raphael Lemkin als
Urheber des Begriffs Genozid und der Völkermord-Konvention abzurücken.
Immerhin verortete er genozidale Denkweisen im Kolonialismus und
insbesondere in der Vernichtungsstrategie in Deutsch-Südwestafrika.
Auch müsste Hannah Arendts „Ursprünge totaler Herrschaft“ als tendenziell
antisemitisch eingestuft werden; wies sie doch darauf hin, dass die Exzesse
des NS-Regimes nicht ohne die im deutschen Kolonialismus geformte
Herrenmenschenmentalität und Herrschaftspraxis verstanden werden können.
Aber durch „die Banalität des Bösen“ setzte sie sich ja eh schon dem
Antisemitismus-Vorwurf aus (und ihre Haltung zur US-Bürgerrechtsbewegung
machte sie keinesfalls zur antirassistischen Ikone).
Die Unnachgiebigkeit, mit der ein vermeintlicher „Antisemitismus“ als
Mittel der Stigmatisierung instrumentalisiert wird, erinnert an Züge des
von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sezierten autoritären Charakters:
dadurch, dass diese historisch vergleichen, entlarven sie sich genau
besehen auch als „Antisemiten“.
Ein tröstlicher Gedanke mag sein, dass sich die unversöhnliche Aburteilung
vielleicht als Gegenreaktion auf den Terraingewinn erklären lässt, den die
zahlreichen lokalen [3][postkolonialen Initiativen] der Zivilgesellschaft
seit der Jahrtausendwende im öffentlichen Raum erringen konnten. Das Empire
schlägt in Verteidigung der kolonialen Amnesie zurück. White Supremacy
läuft Amok und gerät durch Black Lives Matter und die Denkmalstürze noch
mehr in Rage. Immerhin steht das verinnerlichte Kolonialsystem mit seiner
nicht nur symbolischen Gewaltherrschaft auf dem Spiel.
Es geht um weitaus mehr als nur um Mentalitätsstrukturen: Es geht um die
fortgesetzte Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten. Deren
Überwindung wäre Voraussetzung dafür, dass die Postcolonial Studies
tatsächlich im postkolonialen Raum stattfinden.
29 Jun 2020
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## AUTOREN
Henning Melber
## TAGS
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