# taz.de -- Polizei und Kritik: Nicht die Polizei | |
> Viele Juden in Deutschland haben ein eher gespaltenes Verhältnis zur | |
> Polizei. Das liegt an zwiespältigen Erfahrungen. | |
Bild: Demokratie heißt auch: Kritik an der Praxis von staatlichen Behörden au… | |
Ich hatte mir geschworen, nicht auch noch meine zweite Kolumne dem | |
Bundesinnenminister zu widmen. Doch [1][der Medienkrawall, den Seehofer | |
seit Wochen inszeniert,] sagt nicht nur etwas über sein Ego aus, sondern | |
ist Ausdruck eines unerschütterlichen Konsenses der Bundesrepublik: Hände | |
weg von der Polizei! Ihren Schutzstatus kann keine andere Berufsgruppe | |
überbieten: Kassierer*innen oder Bauarbeiter*innen können nur davon | |
träumen, Lob dafür zu bekommen, genau das zu tun, wofür sie bezahlt werden. | |
Oder sogar, wenn sie es nicht tun – [2][siehe Rainer Wendt]. | |
Dabei geht es mir wie vielen Juden in Deutschland, die ein eher gespaltenes | |
Verhältnis zur Polizei haben. Unsere Synagogen und Gemeinden werden durch | |
Polizist*innen geschützt. Auch wenn es eine Selbstverständlichkeit ist: | |
Dafür bin ich dankbar. | |
Dennoch habe ich meine Erfahrungen gemacht, was gebotene Kritik an | |
polizeilicher Praxis angeht. U. a. verantworte ich die hessische | |
[3][Beratungsstelle „response“ für Betroffene rechter und rassistischer | |
Gewalt.] Seit zwei Jahren stehen wir unter Druck des hessischen | |
Innenministeriums. Es begann im Dezember 2018, als in Frankfurt der | |
[4][„NSU 2.0“ Drohungen an die Anwältin Seda Başay-Yıldız] verschickte … | |
mit Daten, die von Polizeicomputern stammen. Reflexhaft reagierte die | |
Landesregierung mit Floskeln: „Einzelfälle“, „lückenlose Aufklärung“… | |
viele Betroffene war dies ein Déjà-vu, besonders nach den Erfahrungen im | |
NSU-Komplex. | |
## Maulkorb vom Landesinnenministerium | |
Die von uns naiv zitierte Aussage vieler Betroffener, „von den Behörden ist | |
kein Schutz zu erwarten“, traf einen wunden Punkt. Prompt wurden wir ins | |
Landesinnenministerium zitiert. Von diesem Zeitpunkt an durften wir keine | |
Pressemitteilung ohne Freigabe des Ministeriums veröffentlichen. Noch | |
einmal: Wir dürfen Betroffene von Rassismus, Antisemitismus und rechter | |
Gewalt nur dann zu Wort kommen lassen, wenn es dem Ministerium passt. | |
In Hessen – dem Bundesland, in dem [5][Walter Lübcke ermordet] wurde, in | |
dem ein Eritreer in Wächtersbach von einem Rassisten beinahe ermordet wurde | |
und wo das rassistische Attentat von Hanau zehn Menschen das Leben gekostet | |
hat. | |
Seit letzter Woche wissen wir, dass der „NSU 2.0“ keineswegs ruht, sondern | |
auch der [6][Linken-Fraktionschefin Janine Wissler] Drohbriefe schickt – | |
wieder weisen die Daten auf eine unbekannte Quelle hin, möglicherweise | |
wieder in der Polizei. | |
Es bleibt nicht beim Maulkorb. Aktuell behindert das hessische | |
Innenministerium aktiv die Arbeit und Unterstützung von „response“ bei den | |
Angehörigen des Hanauer Anschlags, indem es von uns beantragte | |
„Soforthilfen“ des Bundes einfriert. Ohne Not wurde für die Soforthilfe | |
eine „Zweckbindung für Sachmittel“ an die Verwendung gekoppelt. Die | |
Berater*innen, die Tag und Nacht bei den Hinterbliebenen waren, sollen ihre | |
Arbeit nachträglich als Ehrenamt begreifen und statt Lohn nun anscheinend | |
Spiralblöcke und ergonomische Stühle erhalten. Der Bund hat bereits | |
öffentlich mitgeteilt, dass es diese „Zweckbindung“ schlicht nicht gibt. | |
In offiziellen Stellungnahmen lobt das Innenministerium unsere Arbeit – und | |
stellt uns dabei doch immer neue bürokratische Hürden. Während die | |
hessische Politik in Selbstvergewisserungsritualen den Opfern öffentlich | |
Solidarität verspricht, bleiben nachhaltige Konsequenzen aus – und wird | |
Kritik daran bestraft. Es ist von bitterer Ironie, dass diese Strafe in | |
letzter Instanz wieder die Betroffenen von rechter Gewalt trifft. | |
Die Empörung, die Kritik an der Polizei nach sich zieht, kenne ich in | |
diesem Ausmaß nur aus Deutschland. Man kann sich nur die Frage stellen, | |
warum eine Institution, die wie keine andere die Staatsgewalt verkörpert, | |
sich von eine*r taz-Kolumnist*in oder einer Opferberatungsstelle bedroht | |
fühlt. Wenn meine Erfahrung kein Einzelfall ist, dann haben wir tatsächlich | |
ein #polizeiproblem. Und zwar nicht nur ein Rassismusproblem, sondern auch | |
ein Problem in ihrem Demokratieverständnis. Demokratie heißt nämlich auch, | |
Kritik an der Praxis von staatlichen Behörden auszuhalten und ernst zu | |
nehmen. Ist das zu viel erwartet? | |
8 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Seehofers-Anzeige-Ankuendigung-gegen-taz/!5697052 | |
[2] /Kritik-an-Berliner-Polizeigewerkschaft/!5693685 | |
[3] https://response-hessen.de/ | |
[4] /Solidaritaetsbekundung-mit-Wissler/!5693934 | |
[5] /Jahrestag-des-Mords-an-Walter-Luebcke/!5690128 | |
[6] /Solidaritaetsbekundung-mit-Wissler/!5693934 | |
## AUTOREN | |
Meron Mendel | |
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