| # taz.de -- Deutsche Erinnerung an Kolonialismus: Maji-Maji als Metapher | |
| > Deutschland tut sich schwer mit der Anerkennung kolonialer Vergangenheit. | |
| > Postkolonialismus hat wenig Raum. | |
| Bild: Europäischer Postkolonialismus: Keine Anzeichen eines Bruchs | |
| Demnächst wird in Berlin eine Straße nach Maji-Maji benannt, dem großen | |
| Freiheitskampf im frühen 20. Jahrhundert gegen die kolonialdeutsche | |
| Besetzung Ostafrikas. Die Umbenennung im sogenannten Afrikanischen Viertel, | |
| auf dessen Straßenschildern lange ein Amalgam aus Nazi- und | |
| Kolonialideologie fortlebte, ist das Ergebnis [1][jahrelanger Bemühungen]. | |
| Während dieser Zeit hat sich allerdings bei den meisten Deutschen kaum das | |
| Wissen vermehrt, welches Verbrechen hinter dem Stichwort Maji-Maji steht: | |
| Der Aufstand auf dem Gebiet des heutigen Tansanias wurde vom Kaiserreich | |
| mit genozidalen Methoden niedergeschlagen – Felder wurden abgebrannt, | |
| Ernten und Saatgut vernichtet. Etwa 200.000 zivile Opfer; viele starben | |
| eines erbärmlichen Hungertods. | |
| Der Bundestag spricht lieber über den Holodomor; die Gewalt der anderen. | |
| Kürzlich kamen Nachfahren der tansanischen Opfer zu Besuch. John Mbano | |
| sucht nach dem Schädel eines von Deutschen gehenkten und posthum | |
| zerstückelten Familienangehörigen, einer Führungsgestalt des Aufstands. | |
| Seine Frau Cesilia Mollel, Geschichtslehrerin, berichtete, wie quälend es | |
| für sie sei, an ihrer Schule die Gräueltaten im Unterricht zu behandeln. Ob | |
| wir das auch täten, in unseren Schulen? | |
| Ihre Erschütterung, das transgenerationelle Trauma der Opfer, hat kein | |
| adäquates Gegenüber. Einzelstimmen gewiss, Minderheiten – doch im Ganzen | |
| zeichnet sich der deutsche Echoraum beim Thema Kolonialismus durch die | |
| Abwesenheit von Erschütterbarkeit aus. Das Unrecht wurde feuilletonisiert: | |
| Als hätten sich die Jahrhunderte des europäischen Kolonialismus in | |
| Kunstraub erschöpft, wird lieber von entwendeten Gegenständen gesprochen | |
| als von Genozid, von Rückgabe statt von Reparationen. | |
| ## Keine leeren Vitrinen | |
| Museen haben eine weichgespülte Dekolonisierung als Geschäftsmodell | |
| entdeckt, eine softe zeitgeistige Progressivität, die übrigens perfekt in | |
| die Ära grünen Regierungshandelns passt: Machthierarchien nicht antasten, | |
| aber sie mit feinen Gesten verzieren. Die jüngere europäische Debatte über | |
| Restitution begann bekanntlich 2017 mit einer Rede von [2][Emmanuel Macron] | |
| an der Universität von Ouagadougou; er strebte danach, die junge Generation | |
| für sich einzunehmen und dem Einflussverlust Frankreichs entgegenzuwirken. | |
| Als ich kürzlich im Musée du quai Branly in Paris war, suchte ich | |
| vergeblich nach Lücken: keine leeren Vitrinen, überhaupt keine Anzeichen | |
| einer rupture, eines Bruchs. Die Fülle außereuropäischer Kunstobjekte war | |
| erschlagend, schön – und beunruhigend. Gewiss, die Beschäftigung mit der | |
| Herkunft musealer Bestände hat Gutes und Sinnvolles bewirkt; und doch ist – | |
| außer in Nischen besonderer Sensibilität – etwas nicht gelungen, was man | |
| als epistemologischen Sprung bezeichnen könnte. | |
| Also der Blick in den Spiegel: Wie steht es um die Provenienz und die | |
| Qualität europäischen Weltwissens? Wie kolonial geprägt ist der Kanon | |
| unseres Wissens, wie defizitär unsere Erkenntnis? Nein, keine | |
| Erschütterung, erst recht nicht in diesen Zeiten. Am Leibniz-Zentrum | |
| Moderner Orient (dessen Beirat ich angehöre) erschien jüngst der Sammelband | |
| „[3][Thinking the Re-Thinking of the World]“. Er präsentiert Ansätze aus | |
| Afrika, Asien und dem Nahen Osten zur Dekolonisierung der Geistes- und | |
| Sozialwissenschaften. | |
| Die globalen Strukturen akademischer Forschung seien weiterhin von | |
| westlichen Interessen und eurozentrischen Konzeptionen geprägt, so der | |
| Befund des Instituts. Hierarchien markierten die Wahrnehmung dessen, was | |
| überhaupt als soziologische oder philosophische Produktion anerkannt wird. | |
| Diese ernüchternde Bilanz steht in erstaunlichem Kontrast zur wachsenden | |
| Popularität eines Feindbilds namens „die Postkolonialen“. | |
| ## Über Jahrzehnte ignoriert | |
| Angeblich dominieren sie Universitäten und Kulturbetrieb, haben sich in | |
| Medien, Stiftungen, Verlagen breitgemacht, schieben einander Gelder und | |
| Jobs zu. Die Klage über den geschickt verborgenen und zugleich gewaltigen | |
| Einfluss der Postkolonialen hat verschwörungstheoretische Züge – wie | |
| überhaupt bei diesem Thema schlichtweg alles behauptet werden kann, ähnlich | |
| wie in den USA über die Critical-Race-Theorien. Ein Kampfbegriff. | |
| Wie vieles, was Dekolonisierung betrifft, wurden die tatsächlichen Autoren | |
| und Autorinnen Postkolonialer Theorien in Deutschland, wenn überhaupt, nur | |
| mit arger Verspätung wahrgenommen. [4][Edward Saids] „Orientalismus“ von | |
| 1978 erschien auf Deutsch erst nach mehr als drei Jahrzehnten; Dipesh | |
| Chakrabartys „Provincializing Europe“ nach einem Jahrzehnt. Aber im Diskurs | |
| der Feindseligkeit geht es gar nicht um diese bestimmte akademische | |
| Strömung, die sich längst verästelt hat. | |
| Man kann sie natürlich kritisieren, doch wissen die aggressiven | |
| Antipostkolonialisten oft gar nicht, wovon sie reden – und das ist ihnen | |
| wurscht. So wie sich das Kaiserreich als späte Kolonialmacht durch eine | |
| überschießende Gewalttätigkeit hervortat, hat die späte Anerkennung des | |
| Kolonialgewesenseins in Deutschland eine eigene zähe Verbissenheit. | |
| Und während sämtliche ehemaligen Kolonialmächte dazu neigen, frühere | |
| Verbrechen kleinzureden, jedes Land auf seine Weise, verspritzt das | |
| postkoloniale Feindbild in Deutschland ein ganz spezifisches Gift: Die so | |
| Markierten werden der [5][Relativierung des Holocausts] bezichtigt. Sie | |
| sind böse, ihre Gegner sind gut. Dan Diner ging so weit zu behaupten, die | |
| postkolonialen Theorien seien aus einer Affinität zum Nationalsozialismus | |
| im kolonialen Indien entstanden. | |
| Das Jüdische Museum München zeigt gerade eine Installation zur europäischen | |
| Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts: 125 Millionen Tote – die Opfer des | |
| sich so zivilisiert dünkenden Kontinents; eine unvorstellbare Zahl, ohne | |
| Anspruch auf Vollständigkeit. Maji-Maji ist dabei nicht erfasst. Vielleicht | |
| steht Maji-Maji überhaupt für das, was wir nicht erfassen. | |
| 10 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Umbenennung-von-Strassen-im-Wedding/!5485715 | |
| [2] /Macrons-Westafrika-Reise/!5867512 | |
| [3] https://www.zmo.de/publikationen/publikationsregister/thinking-the-re-think… | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=RfeAxw502Hs | |
| [5] /Postkoloniale-Theoretiker/!5678482 | |
| ## AUTOREN | |
| Charlotte Wiedemann | |
| ## TAGS | |
| Schlagloch | |
| Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus | |
| Postkolonialismus | |
| Erinnerungskultur | |
| Deutscher Kolonialismus | |
| Kolonialismus | |
| Museum | |
| Deutscher Kolonialismus | |
| EU-Politik | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Freie Universität Berlin | |
| Postkolonialismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Dekolonisierende Ausstellung: Bitteres Erinnerungsprojekt | |
| Die US-amerikanische Künstlerin Rajkamal Kahlon stellt in Hamburg aus. Sie | |
| deckt Kontinuitäten kolonialer Gewalt auf. | |
| Museumschefin über Postkolonialismus: „Historie ist nicht unantastbar“ | |
| Multiperspektivisches Denken: Das Ostfriesische Landesmuseum und das | |
| Deutsche Marinemuseum kartieren (post-)koloniale Erinnerungen im | |
| Nordwesten. | |
| Restitution nach Tansania: Kolonialgeschichte in den Knochen | |
| Deutschland will Gebeine getöteter antikolonialer Kämpfer an Tansania | |
| zurückgeben. „Endlich, nach über 100 Jahren“, freut sich ein Enkel. | |
| Neue Lateinamerika-Agenda der EU: Grüner Neokolonialismus | |
| Die Europäische Union hat ihre Liebe zum „natürlichen Partner“ | |
| Lateinamerika neu entdeckt. Die Begeisterung der Latinos darüber hält sich | |
| in Grenzen. | |
| Postkolonialismus-Forschung in Bremen: Forum gegen strukturellen Rassismus | |
| Ambitioniertes Projekt mit wenig Geld: ForscherInnengruppe betreibt das | |
| Institut für Postkolonialismus und transkulturelle Studien der Uni Bremen. | |
| Umgang mit Erinnerungskultur: Eine Utopie der Erinnerung | |
| Das Gedenken an die Shoah ist oft ritualisiertes Gedächtnistheater. Es | |
| sollte jedoch ein verbundenes Erinnern unterschiedlicher Ereignisse sein. | |
| Menschliche Überreste auf Uni-Gelände: Verschränktes Erinnern | |
| Auf dem Gelände des Berliner Otto-Suhr-Instituts werden Knochen untersucht. | |
| Die Erkenntnisse daraus weiten den erinnerungspolitischen Blick. | |
| Postkoloniale Theoretiker: Leerstelle Antisemitismus | |
| Die Verdienste postkolonialer Forschung sind groß. Doch die Causa Achille | |
| Mbembe zeigt, dass sie das Wesen des Antisemitismus verkennt. |