# taz.de -- Dekolonisierende Ausstellung: Bitteres Erinnerungsprojekt | |
> Die US-amerikanische Künstlerin Rajkamal Kahlon stellt in Hamburg aus. | |
> Sie deckt Kontinuitäten kolonialer Gewalt auf. | |
Bild: Fotos vermessener Iraker über Autopsieberichten: Kahlons „Did You Kiss… | |
HAMBURG taz | Im Vergleich zum US-Bombardement Afghanistans 2002 war die | |
koloniale Vermessung dieser Menschen fast ein humanitärer Akt.“ Es klingt | |
bitter, was Rajkamal Kahlon, in einer Schau an der Hamburger Hochschule für | |
bildende Künste (HfbK) präsent, über ihr Video „People of Afghanistan“ | |
sagt. | |
Die Aufnahmen sind authentisch und zeigen aus Pilotenperspektive das | |
[1][Bombardement] eines afghanischen Dorfs. Das zwingt einen in die | |
Täterperspektive: Man guckt mit durch den Sucher. Die weißen Punkte da | |
unten sind rennende Menschen. Dann mehrere Explosionen. Jetzt rennt niemand | |
mehr. | |
Kühl und geschäftsmäßig debattieren auf der begleitenden Tonspur Piloten | |
und Kommandozentrale über geeignete Ziele, melden die Treffer. Man kann es | |
kaum ertragen. Auch die indischstämmige US-amerikanische Künstlerin nicht. | |
„Mit dieser männlichen amerikanischen ‚Master of the Universe‘-Stimme bin | |
ich aufgewachsen, sie ist Teil meiner Identität“, sagt sie. „Für mich ist | |
das ein gespaltener Wiedererkennungseffekt, denn die Männer auf den Fotos | |
könnten meine Verwandten sein“, sagt die inzwischen in Berlin lebende | |
Künstlerin und Malerei-Professorin an der HfbK. „Angesichts dieses Videos | |
fühle ich Trauer, Scham und Schuld.“ | |
## Reduktion von Menschen auf Objekte | |
Jene Männer auf den Fotos – das sind von Kahlon über das Video gelegte | |
Aufnahmen, die der russische Anthropologe G. F. Debets in den 1960ern in | |
Afghanistan machte, als er Menschen im Zuge eines rassistischen | |
„Forschungsprojekts“ vermaß. Vielleicht sind es Verwandte der 2002 | |
Bombardierten, vielleicht nicht. Wichtig ist die Kontinuität [2][kolonialer | |
Gewalt,] die Reduktion von Menschen auf Objekte. Dagegen arbeitet | |
[3][Kahlon] seit Langem an – als politische Aktivistin und Künstlerin. | |
Wichtigstes Vehikel dabei ist das Malen, genauer: das Übermalen: In | |
Archiven und alten Büchern sucht und findet sie Abbildungen einst | |
Kolonisierter – sei es im [4][Amsterdamer Tropenmuseum,] im Wiener | |
Weltmuseum oder im deutschen Buch „Die Völker der Erde“ von 1902. Überall | |
dort finden sich unbekleidete, haarlose, zum Objekt degradierte Menschen, | |
die vermessen, typisiert und als zivilisatorisch unterlegen klassifiziert | |
werden. Und immer wieder hat Kahlon solche Fotos vergrößert und übermalt, | |
den Frauen modische Kleidung und schicke Frisuren, den Männern anständige | |
Anzüge gegeben. | |
Im Resultat ist das Ursprungsbild nicht verschwunden, aber verwandelt, | |
fürsorglich ergänzt, die Person vom Objekt ins Individuum transformiert. | |
Dabei bleibt der Vorgang, die Brechung immer sichtbar. Denn tatsächlich | |
wirkt das Draufgemalte zunächst deplatziert, und genau dieses Erstaunen, | |
auch die Komik darin, ist gewollt: Warum finden wir es bizarr, gar lustig, | |
dass diese Menschen plötzlich eine Prada-Tasche tragen? | |
„Ich will einen Dialog darüber initiieren, wie uns diese Bilder und die | |
ihnen innewohnende Gewalt bis heute prägen“, sagst Kahlon. Einige ihrer | |
Figuren stehen gar als lebensgroße Cut-outs im „Schaufenster“ der HfbK, | |
sollen zum Näherkommen locken, bevor es an die harten Themen geht. | |
„Ästhetik und Gewalt existieren parallel. Ich finde problematisch, dass wir | |
das oft trennen“, sagt Kahlon. | |
Außerdem kann Schönheit helfen, Be- und Verarbeitung erträglich machen: | |
Zehn Jahre lang ist Rajkamal Kahlon um die medizinisch kalten | |
Autopsieberichte des [5][Folterprogramms] der Bush-Ära in Afghanistan und | |
Irak herumgeschlichen. Hat die Dokumente schließlich marmoriert – sowohl | |
eine Anspielung auf vergrößerte Zellstrukturen als auch eine | |
Ästhetisierung. | |
Dann hat sie anatomische Zeichnungen und Fotos darübergelegt, die der | |
US-Anthropologe Henry Field in den 1930ern von im Irak vermessenen Menschen | |
gemacht hatte. „Das war bald, nachdem man im Irak Öl gefunden hatte“, sagt | |
Kahlon. Sie hat die namenlosen Fotos über die anonymen Autopsieberichte | |
gelegt und „Onkel“ oder „Bruder“ daruntergeschrieben. | |
19 Oct 2023 | |
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[4] /Museum-in-Amsterdam/!5865923 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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