| # taz.de -- Umgang mit Erinnerungskultur: Eine Utopie der Erinnerung | |
| > Das Gedenken an die Shoah ist oft ritualisiertes Gedächtnistheater. Es | |
| > sollte jedoch ein verbundenes Erinnern unterschiedlicher Ereignisse sein. | |
| Bild: Erinnerungen sind keine geschlossen Räume, sondern mit dem Jetzt verbund… | |
| Am 10. Juli 2021 ist [1][Esther Bejarano] im Alter von 96 Jahren | |
| verstorben. Sie überlebte das Vernichtungslager Auschwitz als junge Frau | |
| und kämpfte seitdem gegen Faschismus und Rassismus – stets an der Seite von | |
| Betroffenen rechter und neonazistischer Gewalt in der Bundesrepublik | |
| Deutschland. | |
| Sie verstand es, die Kontinuitäten und Nachwirkungen des | |
| Nationalsozialismus und der Shoah in der Gegenwart immer wieder | |
| hervorzuheben, zu kritisieren und zu bekämpfen. Dabei zögerte sie nicht, | |
| ihre Geschichte als Überlebende von Auschwitz mit den Perspektiven von | |
| Überlebenden von neonazistischer Gewalt der Gegenwart zu verbinden. | |
| Die [2][gesellschaftliche Erinnerung an die Shoah] geht auf diese | |
| jahrzehntelangen Kämpfe von Überlebenden, ehemaligen Exilant:innen und | |
| Aktivist:innen zurück. Zugleich haben diese Kämpfe stets über eine | |
| staatlich-offizielle Erinnerungskultur hinausgewiesen. | |
| Denn in jedem Konflikt um eine Gedenktafel, um einen Gedenkkranz, einen | |
| Gedenktag oder um eine Straßenumbenennung ging (und geht) es immer auch | |
| darum, den gesellschaftlichen Status quo der postnationalsozialistischen | |
| Gegenwart zu kritisieren. Überlebende waren nie die passiven Opfer, zu | |
| denen sie in manch einer Gedenkstunde gemacht werden. Sie waren und sind | |
| die Zeug:innen des Geschehenen, handelnde Akteure der Gesellschaft und | |
| Kämpfer:innen um Gerechtigkeit und um eine bessere Welt, wie man an | |
| Bejarano und vielen anderen Überlebenden immer sehen konnte. | |
| In den letzten Jahren hat sich auch die Erinnerung an die rassistische und | |
| antisemitische Gewalt nach 1945 in diese Erinnerungskultur eingeschrieben. | |
| Die Verbindung von Nationalsozialismus und postnazistischer Gewalt ist | |
| dabei nicht bloß eine rhetorische Bezugnahme, sondern zugleich politische | |
| Analyse der historischen Kontinuitäten. Die Erinnerungen daran gehören | |
| zusammen, weil auch die Taten in einem historischen Zusammenhang stehen. | |
| Diese Erinnerungspraxis verweist auf die Diskrepanz zwischen dem staatlich | |
| gepflegten Selbstbild der geläuterten Nation und der gesellschaftlichen | |
| Realität der kontinuierlichen Gewalt gegen die „anderen“. Sie setzt die | |
| konkrete Benennung von Taten, Täter:innen und Strukturen gegen das | |
| Erstaunen nach neonazistischen Anschlägen, dass „so etwas in Deutschland | |
| nochmal möglich ist“. | |
| ## Keine Statistenrolle | |
| Diese Praxis setzt die Forderung nach konkreter Aufarbeitung gegen das | |
| abstrakte „Nie wieder“. Sie setzt Empathie mit den Opfern gegen die | |
| Selbstvergewisserungen der Täter:innen und ihrer Nachfahren. Sie setzt | |
| Erinnerung als eingreifende Praxis gegen eine ritualisierte, abgeschlossene | |
| Erinnerungskultur. Sie schafft Orte der Solidarität zwischen Betroffenen. | |
| Überlebende finden darin Kraft und Stärke, weil sie ihre Geschichten selbst | |
| erzählen, anstatt zu Statisten im Gedächtnistheater gemacht zu werden. | |
| Das Tribunal [3][„NSU-Komplex auflösen“] war ein solcher Ort | |
| selbstbestimmten Gedenkens zwischen Überlebenden des NSU sowie anderer | |
| neonazistischer Anschläge, politischen Initiativen – und eben auch Bejarano | |
| als Überlebende der Shoah. | |
| Es war von einem breiten Bündnis antirassistischer und antifaschistischer | |
| Initiativen organisiert worden, um den Überlebenden und Angehörigen der | |
| rechtsterroristischen Mordserie Raum zum Sprechen zu geben, um anzuklagen, | |
| um zu beklagen und um einzuklagen. Bejarano sagte dort: „Wir alle haben die | |
| Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, solidarisch mit den Opfern | |
| rassistischer Gewalt zu sein und ihnen zur Seite zu stehen, zuzuhören und | |
| ihnen das Gefühl zu geben, dass sie nie wieder alleine sein werden. Auch | |
| das Tribunal ist jetzt ein Teil einer Rache an den Nazis!“ | |
| ## Empathie und Solidarität | |
| Die Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus und der neonazistischen | |
| Gewalt der Gegenwart nahm [4][Ibrahim Arslan,] Überlebender des | |
| Brandanschlags von Mölln 1992, in der Abschlussrede des Tribunals auf. Er | |
| kritisierte Gedenkpolitiken, die ohne Berücksichtigung der Wünsche der | |
| Überlebenden stattfinden: „72 Jahre nach dem Holocaust steht immer noch die | |
| Frage, wie man mit Opfern und Betroffenen und deren Gedenken umgehen soll.“ | |
| Er plädierte dafür, dass die Perspektiven der Überlebenden im Zentrum | |
| stehen. Nur so seien Empathie und Solidarität möglich. | |
| Auch die [5][„Möllner Rede im Exil“] ist Teil eines solchen Kampfes. Sie | |
| entstand, weil Verantwortliche der Stadt Mölln der hinterbliebenen Familie | |
| ein selbstbestimmtes Gedenken an den Brandanschlag, an Yeliz Arslan, Ayşe | |
| Yılmaz sowie Bahide Arslan verweigerten und sie in Ibrahim Arslans Worten | |
| zu „Statisten“ machte. Die Möllner Rede im Exil wird seit 2013 durch die | |
| hinterbliebene Familie sowie durch einen solidarischen Freundeskreis an | |
| wechselnden Orten und mit unterschiedlichen Redner:innen organisiert. | |
| Arslan und Bejarano (vertreten durch ihren Sohn Yoram) begegneten sich | |
| erneut während der Möllner Rede im Exil 2017. „Um es klar auszusprechen, | |
| ohne das Wegschauen und das Decken nach 1945 hätte es das | |
| Oktoberfestattentat, Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln | |
| und den NSU so nicht geben können. Es hätten aus den Erfahrungen und | |
| Ereignissen des Nationalsozialismus die richtigen Konsequenzen gegen den | |
| Hass gezogen werden müssen“, so Bejarano. | |
| ## Die eigene Geschichte | |
| Arslan und Bejarano fanden Worte, um ihre eigenen Geschichten für die | |
| Geschichten anderer zu öffnen und sich selbst in der Geschichte der anderen | |
| zu verorten. Natürlich waren ihre Erfahrungen nicht die gleichen; aber sie | |
| teilten eine gemeinsame Haltung, die sie aus ihren Erfahrungen heraus | |
| entwickelt hatten. Arslan versprach Bejarano, die Erinnerung fortzuführen, | |
| was jetzt – im Angesicht ihres Todes – eine neue Bedeutung bekommt. | |
| Unterschiedliche gesellschaftliche Kämpfe kommen hier zusammen und es | |
| besteht keine Gefahr der Opferkonkurrenz zwischen Betroffenen | |
| unterschiedlicher Gewaltverhältnisse. Es gibt eine gemeinsame Erinnerung an | |
| Ermordete, ohne zu vergessen, was die Spezifika der jeweiligen Taten sind. | |
| Jedes Gedächtnis findet seinen Platz und keines muss abschließend | |
| festgeschrieben werden. Im Gegenteil: Gedächtnisse werden füreinander | |
| geöffnet und genau darin kann das Spezifische gegenseitige Anerkennung | |
| finden. So kann auch nach dem Tod von Zeitzeug:innen die Erinnerung an | |
| die Shoah in den Kämpfen um eine bessere Welt weitergeführt werden. | |
| Wichtig dafür ist eine politische und historische Reflexion der Ursachen | |
| und Wirkungen des Erfahrenen, die als Grundlage für eine Veränderung der | |
| gegenwärtigen Zustände dient. Aber diese Erinnerungspraxis führt nicht in | |
| Debatten um „Opferkonkurrenzen“, weil sie die Differenzen benennen kann, | |
| ohne das Verbindende aus den Augen zu verlieren. | |
| Eine Verbindung verschiedener Gedächtnisse kann man nicht nur zwischen | |
| Arslan und Bejarano sehen, sondern auch zwischen der Möllner Rede im Exil | |
| 2017 und der Möllner Rede im Exil 2021. 2021 hielten Naomi Henkel-Gümbel, | |
| angehende Rabbinerin und [6][Überlebende des rechtsterroristischen | |
| Anschlags von Halle] an Yom Kippur im Jahr 2019, und Newroz Duman, | |
| antirassistische Aktivistin und Sprecherin der Initiative 19. Februar, | |
| gemeinsam die Möllner Rede im Exil. Ihr gemeinsames Sprechen steht auch für | |
| die Solidarität zwischen den Betroffenen von Halle, Hanau und von anderen | |
| Anschlägen. | |
| ## Ohne Angst verschieden sein | |
| Wieder gelang an diesem Ort ein verbundenes Erinnern unterschiedlicher | |
| Ereignisse und Hintergründe. In einer dialogisch vorgetragenen Rede | |
| berichteten sie von ihren Erfahrungen – des Alltagsantisemitismus auch in | |
| seiner Unterschiedenheit zum Rassismus, des rechtsterroristischen | |
| Anschlags, des Überlebens und des Alltagsrassismus und der Angst vor | |
| Abschiebung – so, dass sie nebeneinander stehen konnten, aber auch eine | |
| Verbindung zwischen den Sprechenden geschaffen wurde. | |
| Als Gemeinsamkeit hob Henkel-Gümbel hervor: „Wir haben uns dem nicht | |
| gebeugt. Wir sind nicht in die Unsichtbarkeit gegangen. Wir – wir sind die | |
| radikale Vielfalt an sich. Das Schöne. Das Andere. Das Sichtbare. Das | |
| Mögliche.“ | |
| Eine solche Praxis solidarischen Gedenkens und Kämpfens – in der Verbindung | |
| der Verbrechen der Nationalsozialisten und neonazistischer Anschläge der | |
| Gegenwart, ebenso wie im gemeinsamen Gedenken Betroffener rassistischer und | |
| antisemitischer Gewalt – steht einer offiziellen Erinnerungskultur | |
| entgegen, die zwar an Vergangenes als etwas Abgeschlossenes erinnert, nicht | |
| aber kritisch die gesellschaftliche Gegenwart verändern will. | |
| Die hier entstehende Gemeinsamkeit liegt in den Motiven, die diese | |
| Erinnerungen zusammenführen und die über die erinnerte Vergangenheit hinaus | |
| in die Zukunft weisen. Man kämpft um ein Erinnerungsritual, aber immer auch | |
| darüber hinaus. Dabei wird praktisch vorweggenommen, was man sich für eine | |
| veränderte Gesellschaft wünscht: Eine Gesellschaft ohne Macht- und | |
| Gewaltverhältnisse, ohne Rassismus und Antisemitismus; einen Zustand, in | |
| dem alle Menschen ohne Angst verschieden sein können, so Theodor Adorno. In | |
| einer solchen besseren Gesellschaft braucht es, so ein Gedanke von Zygmunt | |
| Bauman, keine ritualisierte Erinnerungskultur, die im öffentlichen | |
| Bewusstsein eingefriedet ist. Sie wäre in der Praxis einer | |
| nicht-mehr-rassistischen und nicht-mehr-antisemitischen Gesellschaft | |
| aufgehoben. | |
| 8 Aug 2021 | |
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| [6] /Rechtsextremer-Anschlag-in-Halle/!5786272 | |
| ## AUTOREN | |
| Hannah Peaceman | |
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