# taz.de -- Museumschefin über Postkolonialismus: „Historie ist nicht unanta… | |
> Multiperspektivisches Denken: Das Ostfriesische Landesmuseum und das | |
> Deutsche Marinemuseum kartieren (post-)koloniale Erinnerungen im | |
> Nordwesten. | |
Bild: Vom Kolonialismus geprägt: Postkarte „Gruss aus Wilhelmshaven“ | |
taz: Frau Alley, der Versuch, die Schrecken des europäischen Kolonialismus | |
aufzuarbeiten, ist ein noch junges Phänomen. Lange wurde ignoriert, | |
verdrängt, geschwiegen. Was ist Ihre Motivation, sich in die Aufklärung | |
einzureihen? | |
Jasmin Alley: Als Museum, als Erinnerungsinstitution, stehen wir vor einem | |
Problem, vor dem viele Museen stehen: Unsere Sammlung ist ein hegemonialer | |
Ort; ihre Perspektive ist die der Kolonisierer, der ehemaligen | |
Kolonialherren. [1][Unsere Sammlungspräsentation] ist sehr klassisch. Ich | |
arbeite daran, die Narrative in unserem Museum zu verändern, | |
unterschiedliche Positionen sichtbar zu machen, multiperspektivisch, auch | |
über den Kolonialismus hinaus. Aber gerade dieses Thema ist eng mit dem | |
gegenwärtigen Gedanken der Diversität verknüpft, und diesen Diskurs will | |
ich fördern. | |
Die Tagung zielt auf den „Beginn einer ‚Kartierung‘ (post-)kolonialer | |
Erinnerungsorte und Akteur:innen im Nordwesten Deutschlands“. Das klingt | |
nach Defiziten. Wie sind die zu erklären? | |
Die [2][Aufarbeitung des Kolonialismus] ist vor allem durch AktivistInnen | |
angestoßen worden; sie ist ein Verdienst von Menschen außerhalb von | |
Institutionen. In der Peripherie, jenseits von Städten wie Berlin oder | |
Frankfurt am Main, gibt es nicht so viele von ihnen; die Institutionen | |
haben dort lange nicht den Druck verspürt, sich ebenfalls diesem Thema zu | |
stellen. Erst heute dringt das zu ihnen vor. Hinzu kommt, dass die meisten | |
von ihnen sehr homogen sind, sehr weiß, dass sie aus der Innensicht | |
Leerstellen haben. Sie können diese Perspektiven nicht sehen. | |
Deshalb sind für Ihre Tagung auch AktivistInnen eingeladen, nicht nur | |
WissenschaftlerInnen? | |
Ja, ganz bewusst. Das wird sehr heterogen, auch unter denen, die bei uns | |
sprechen werden. Es geht nicht zuletzt darum, Deutungshoheit abzugeben, als | |
Institution. Ich möchte Menschen mit Rassismuserfahrung ansprechen, | |
Menschen die sich als Schwarz oder als People of Color identifizieren. Ich | |
möchte, dass sie sehen: Es verändert sich etwas; auch meine Position ist | |
hier repräsentiert. Auch Tahir Della kommt, von der Initiative Schwarzer | |
Menschen in Deutschland, und das freut mich wirklich sehr. Menschen wie er | |
sind Vorbilder und bieten Identifikation für Schwarze Menschen hier vor | |
Ort. | |
Es geht also um Bewusstseinsweckung? | |
Wir wollen einerseits ein Bewusstsein dafür erzeugen, welche Themen | |
überhaupt bei uns anstehen, historisch gesehen. Zugleich geht es darum, | |
eine Kartierung von denjenigen zu erstellen, die aktivistisch im Nordwesten | |
unterwegs sind. Und wir versuchen Menschen mitzunehmen, die zwar | |
Leerstellen sehen, sich aber bisher nicht engagieren und das Museum nicht | |
als ihren Ort begreifen. | |
Was, wenn es Stimmen gibt, die sagen: Wozu das Ganze? | |
Wir sind eine ländlich geprägte Region. Es gibt hier viele ältere Menschen, | |
und sicher auch viele, die das Thema Kolonialismus für unwichtig halten. | |
Aber an denen will ich mich nicht abarbeiten. Wir wollen einen Raum für | |
Gespräche schaffen; von diesen Räumen gibt es viel zu wenige hier im | |
Nordwesten. Wir müssen auf die Jüngeren fokussieren, damit sich ihre | |
Lebensrealität ändert. Es gilt, sich kennenzulernen, Kräfte zu bündeln, | |
sich gegenseitig zu empowern. | |
Emden und Wilhelmshaven waren Mitorganisatoren und Nutznießer des | |
Kolonialismus. Welche Spuren davon lassen sich noch finden? | |
Unser Museum besitzt Karten des afrikanischen Kontinents, Schiffsmodelle, | |
Urkunden, die auf den Versklavungshandel im 17. Jahrhundert hindeuten. | |
Leider sind das Spuren, die nicht besonders sichtbar sind bei uns im Haus | |
und bei denen sich nicht unmittelbar erschließt, wofür sie stehen. Es gibt | |
Kanonen, die in Emden stehen und aus dem [3][damaligen Groß | |
Friedrichsburg], heute Princes Town in Ghana, stammen, die auf den | |
Versklavungshandel hinweisen und an der Knock, dem Pumpwerk am Dollart, | |
finden sich zwei Denkmäler für Friedrich Wilhelm, den Kurfürsten von | |
Brandenburg, mit dem im 17. Jahrhundert die deutsche Kolonialzeit beginnt. | |
Aber auch das offenbart sich nicht sofort als Spur des Kolonialismus. | |
Viele denken, die deutsche Kolonialzeit beginnt erst in den 1880ern. | |
Ja, und in dieser Zeit sind viele unserer heutigen Museen entstanden, als | |
Welterklärungsmaschinen, als Orte der Kategorisierung, botanisch, | |
ethnologisch und national. Aber die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie | |
ist 200 Jahre älter. Emden war schon damals in den Kolonialismus | |
involviert; Wilhelmshaven repräsentiert eher den des 19. Jahrhunderts. Das | |
hat ein Weltbild erzeugt, das Hunderte Jahre alt ist. Deshalb dauert es | |
jetzt auch so lange, es zu verändern. | |
Der Kolonialismus war voller Düsternisse, von der Sklaverei bis zu | |
Enteignung, Hunger und Krieg. Warum sprechen wir erst heute über | |
dekoloniale Erinnerung? | |
Das hat mit gegenwärtigen Machtstrukturen zu tun, mit der noch immer | |
bestehenden Asymmetrie zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. | |
Die Wirkmächtigkeit des Kolonialismus reicht bis in die heutige Zeit, und | |
eine ihrer Dimensionen ist der Rassismus. Der Kolonialismus ging mit | |
Völkermord und Ausbeutung einher, der Entwertung von Menschen. In | |
Gesellschaften, die sich als demokratisch bezeichnen, als freiheitlich, | |
passt eine solche Vergangenheit nicht ins Weltbild; heute haben wir andere | |
ethische Ansprüche. Niemand will als rassistisch gelten. Aber statt zu | |
lernen, reagiert die weiße Mehrheitsgesellschaft oft noch immer mit | |
Ablehnung. Das ist eine kognitive Dissonanz. | |
Manche behaupten ja bis heute, der Kolonialismus sei eine Zivilisierungstat | |
gewesen. Gerade im rechten Spektrum spült derzeit erschreckendes | |
Gedankengut wieder hoch. | |
Genau. Alexander und Margarete Mitscherlich haben in den 1960ern in | |
„[4][Die Unfähigkeit zu trauern]“ anhand der NS-Zeit darüber geschrieben, | |
dass es keine wirkliche Vergangenheitsverarbeitung gegeben hat. Das gilt | |
auch für den Kolonialismus. Dann leben Ideen im Unterbewusstsein weiter. | |
Und heute, in einer Zeit des Zweifelns an der Demokratie, weil der | |
Kapitalismus und die Wachstumsideologie nicht mehr wie gewohnt | |
funktionieren, kommen sie wieder an die Oberfläche. | |
Wie geht man mit Spuren der Kolonialzeit um? Mit Orten wie den Denkmälern | |
an der Knock? | |
Da braucht jeder Einzelfall seine eigene Strategie. Aber Text allein | |
entkräftet nicht. Es geht darum, auch visuell zu stören. Manche sagen, das | |
ist doch ein Geschichtszeugnis, das muss man so belassen. Aber Historie ist | |
nicht unantastbar, und unser Umgang mit Denkmälern repräsentiert unsere | |
Haltung der Gegenwart. Es ist legitim, sich zu fragen, welche man noch | |
braucht, um zu zeigen, was war. Das diskutieren wir auch auf der Tagung: | |
Dekolonisierung des Stadtraums. Bilder, die rassistische Narrative | |
reproduzieren, würde ich bei uns im Hause nicht zeigen. | |
15 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] http://www.landesmuseum-emden.de/2-0-2 | |
[2] /Historiker-ueber-koloniale-Aufarbeitung/!5905040 | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9F_Friedrichsburg_(Kolonie) | |
[4] /Zum-Werk-Alexander-Mitscherlichs/!5182886 | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
## TAGS | |
Museum | |
Ostfriesland | |
Emden | |
Wilhelmshaven | |
Deutscher Kolonialismus | |
Kolonialismus | |
Postkolonialismus | |
Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Schlagloch | |
Naturwissenschaft | |
Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Koloniales Erbe in Göttingen: Brot und Bier für deutsche Truppen | |
Eine Ausstellung im Städtischen Museum schlägt den Bogen von Lokalhistorie | |
bis deutscher Kolonialzeit in China. Auslöser war ein besonderer Nachlass. | |
Umgang mit Kolonialgeschichte: Zeugen der Verbrechen | |
Koloniale Ausbeutung machte Bremen und Hamburg reich. Eine | |
Dekolonialisierung, die den Namen verdient, muss daran erinnern. | |
Deutsche Erinnerung an Kolonialismus: Maji-Maji als Metapher | |
Deutschland tut sich schwer mit der Anerkennung kolonialer Vergangenheit. | |
Postkolonialismus hat wenig Raum. | |
Paläontologie und Postkolonialismus: Kulturelles Erbe Saurierknochen | |
Jahrzehnte landeten Fossilien aus Afrika im Westen in naturkundlichen | |
Sammlungen. Nun soll der Kolonialismus in der Wissenschaft überwunden | |
werden. | |
Kolonialismus als Spielfilm-Thema: Geklaut aus Afrika | |
Zu sehen in Hamburg: In seinem Spielfilm „Invasion 1897“ erzählt Lancelot | |
Oduwa Imasuen, wie das Königreich Benin durch die Briten zerstört wurde. |