# taz.de -- Zum Werk Alexander Mitscherlichs: Die Unfähigkeit zu würdigen | |
> Alexander Mitscherlich war eine der intellektuellen Gründungsfiguren der | |
> Bundesrepublik. Bei einem Symposion in Jena drängt sich der Eindruck auf: | |
> Es geht um einen kompletten Denkmalabriss. | |
Bild: Von links: SDS-Vorstandsmitglied Juergen Krahl, Schriftsteller Martin Wal… | |
Alexander Mitscherlich war Arzt, Sozialpsychologe, Großintellektueller, | |
Polemiker, Berichterstatter des NS-Ärzteprozesses 1946, Institutsgründer, | |
Zeitdiagnostiker, Bestsellerautor, Soziologe, Mentor von Jürgen Habermas | |
und Gründer der Zeitschrift Psyche. Vielleicht war - nicht als Autor | |
ideengeschichtlicher Standardwerke, aber als öffentliche Figur - in der | |
Bundesrepublik der 60er-Jahre niemand wirksamer als er. Nach Günter Grass | |
und Walter Jens steht nun mit Mitscherlich, geboren 1908, gestorben 1982, | |
eine weitere intellektuelle Gründerfigur auf dem Prüfstand. Die Kritik | |
entzündet sich, grob gesagt, an drei Fronten: an seinem Werk, seiner | |
Biographie vor 1945 und seiner Rolle als Großintellektueller. | |
Das Werk: "Die Unfähigkeit zu trauern", verfasst 1967 von Alexander und | |
Margarete Mitscherlich, ist einer der am hartnäckigsten missverstandenen | |
Titel. Im Alltagsgebrauch meint er längst die moralische Kritik an der | |
westdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft, die die Ermordung der Juden | |
mit achselzuckender Ignoranz bedachte. Doch die Mitscherlichs hatten in | |
erster Linie die verdrängte Trauer um Hitler im Blick. Um die drohende | |
Melancholie zu vermeiden, die der Untergang des geliebten Führers hätte | |
auslösen können, stürzten sich die Deutschen in den Wiederaufbau. So die | |
Grundthese. | |
Dieses Missverständnis wurzelt aber im Text selbst, in dem die Autoren in | |
irritierend wechselnden Rollen auftreten: mal als Moralisten, die die | |
Gesellschaft zur Erinnerung ermahnen, dann als Sozialpsychologen, die die | |
Volksseele begutachten, dann als Psychoanalytiker. | |
"Die Unfähigkeit zu trauern" ist, etwa von Tilman Moser, schon früher | |
scharf angegriffen worden - doch die Kritik des Publizisten Christian | |
Schneider (bei der unter anderem von Norbert Frei initiierten Tagung über | |
"Psychoanalyse und Protest") hatte es in sich. Trauer ist bei Freud ein | |
spontaner Affekt, mit dem das Individuum den Verlust eines geliebten | |
Objekts verarbeitet. Trauerarbeit ist der Versuch, zu vergessen - bei den | |
Mitscherlichs wird sie indes in einer moralischen Volte zum Gegenteil: zum | |
Appell, zu erinnern. Mitscherlichs Rückgriff auf Freud war, so Schneider, | |
ein "unredlicher" Versuch, die Autorität des vertriebenen jüdischen | |
Intellektuellen Freud für eigene Zwecke zu benutzten. Ein Fall von | |
Missbrauch also. Und ein weitreichender Vorwurf, zumal Mitscherlich | |
Begründer des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts war, an dem Schneider | |
später arbeitete. | |
Die Schwächen der "Unfähigkeit zu trauern" sind unübersehbar. Aber war das | |
Buch wirklich nur, wie in Jena angedeutet wurde, eine moralische | |
Distinktionsgeste der Eliten, die sich 1967 von den Massen abgrenzen | |
wollten? Immerhin war es ja auch der Versuch, über Wünsche zu reden, die | |
verschwiegene Bindung an Hitler zu thematisieren und die betonierte Front | |
von Schweigen und moralischer Verdammung der Eltern zu lockern. | |
Doch in Jena war man sich verblüffend einig. Jenseits von ein paar | |
Höflichkeitsadressen war das Urteil klar: Mitscherlichs Werk ist veraltet, | |
oft merkwürdig erfahrungslos - weder Micha Brumlik noch Norbert Frei | |
mochten da widersprechen. Viele Angreifer, kaum Verteidiger. Nur die | |
Sozialpsychologin Karla Brede versuchte eine Ehrenrettung von Mitscherlichs | |
"eingreifender Sozialpsychologie". Doch "Die Unfähigkeit zu trauern", so | |
der nahezu einmütige Konsens in Jena, war letztlich nicht mehr als ein | |
"Logo" (Hans Martin Lohmann) der entstehenden Betroffenheitsgedenkkultur. | |
So kann man es sehen. Eine kühle Historisierung klingt allerdings anders. | |
In Jena wurde man hingegen den Verdacht nicht los, dass in dieser | |
Abrechnung das eigene Unbehagen in der Gedenkkultur auf Mitscherlich | |
zurückprojiziert wurde. | |
Die Biographie: "Krieg ist besser als Knechtschaft". Diese Widmung schrieb | |
Ernst Jünger seinem jungen Freund Alexander Mitscherlich in den 30er-Jahren | |
in ein Exemplar seines Buches "Der Arbeiter". Mitscherlich bewunderte den | |
Antidemokraten Jünger und war fasziniert von dessen antibürgerlichem | |
Habitus. 1946 schrieb er an Jünger die Replik: "Krieg ist die Ultima Ratio | |
der Knechtschaft". Das war der Bruch mit den antiparlamentarischen Rechten. | |
Später bekannte Mitscherlich, dass es "schmerzlich war, damals auf der | |
falschen Seite gestanden zu haben". | |
Dass Mitscherlich seine Affinität zu der Rechten in den 30ern in seiner | |
Autobiographie verkleinerte, irritiert (siehe Interview mit seinem | |
Biographen Martin Dehli). Gerade bei dem Autor, der der westdeutschen | |
Gesellschaft forsch die "Unfähigkeit zu trauern" bescheinigte, ist die | |
moralische Fallhöhe groß. Doch das moralische Urteil verdeckt Mitscherlichs | |
biographisch-intellektuelle Leistung. 1945 wurden viele über Nacht zu | |
braven Demokraten, Mitscherlich nicht. Er verwandelte sich millimeterweise | |
vom rechten Kulturpessimisten zu einem Linksliberalen und entschiedenen | |
Verfechter der Demokratie. Gerade dass Mitscherlich etwa seine elitäre | |
Kritik der Massengesellschaft nach 1945 nicht über den Haufen warf, sondern | |
demokratietauglich umschrieb, zeigt seine intellektuelle Integrität. | |
Mitscherlich als intellektuelle Figur: Mitscherlich verstand es, sich als | |
Arzt am Krankenbett der Gesellschaft zu inszenieren, der sogar mal | |
CDU-Politiker per Ferndiagnose auf die Couch legte. Er trat als | |
wissenschaftliche Autorität auf, der wusste, wo es langgeht. Heute würde | |
der Gestus des Großdeuters, der Gesellschaftskritiker, Therapeut und | |
Analytiker gleichermaßen zu sein scheint, wohl seltsam anmuten. Wir würden | |
auch seine kulturkritischen Ermahnungen kaum ertragen. Dies kann man - mit | |
Mitscherlich gesprochen - für eine Emanzipation halten. Wir brauchen auch | |
keine Gegenautoritäten mehr, denen, auch wo sie Befreiung predigen, stets | |
Paternalistisches anhaftet. | |
So kann man es sehen. Allerdings fragt sich, ob der Typus des | |
TV-Intellektuellen à la Norbert Bolz wirklich ein Fortschritt für unsere | |
politische Kultur ist. | |
29 Apr 2008 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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