# taz.de -- Menschliche Überreste auf Uni-Gelände: Verschränktes Erinnern | |
> Auf dem Gelände des Berliner Otto-Suhr-Instituts werden Knochen | |
> untersucht. Die Erkenntnisse daraus weiten den erinnerungspolitischen | |
> Blick. | |
Jetzt wird es kompliziert, dachte womöglich die ein oder andere am | |
vergangenen Dienstag. Mehr als 250 Menschen waren digital dabei, als die | |
Freie Universität Berlin (FU) die Erkenntnisse präsentierte, die sie über | |
[1][Fragmente menschlicher und tierischer Knochen] gewonnen hatte, die auf | |
einem ihrer Gelände geborgen worden waren. Die Grabungen, die die Knochen | |
zutage gefördert hatten, hatte die FU 2015 und 2016 in Auftrag gegeben – | |
auch in Reaktion auf harsche Kritik. | |
Denn zuvor waren im Zuge von Bauarbeiten bereits vergleichbare Funde | |
gemacht worden. Diese hatte man aber entsorgt, ohne zuvor zu versuchen, der | |
Identität der Menschen auf die Spur zu kommen, von denen die Überreste | |
stammten. Dafür gab es Schelte. Mit gutem Grund, denn der Fundort der | |
Überreste ist ein historisch sensibles Gelände. Auf dem Grundstück, das | |
heute der FU gehört, befand sich von 1927 bis 1945 das | |
[2][Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und | |
Eugenik (KWI-A)]. | |
Vom KWI-A ist bekannt, dass es enge Verbindungen zum [3][Vernichtungslager | |
Auschwitz] unterhielt. Damals kam deshalb die Vermutung auf, dass es sich | |
um Knochenfragmente von NS-Opfern handeln könnte. Der Befund, der am | |
Dienstag vorgestellt wurde, ist allerdings komplizierter. Danach kann zwar | |
nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei einigen der Funde um | |
Überreste von Ermordeten aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern | |
handelt. | |
Insbesondere die Gipsabformung eines toten Mannes gibt Rätsel auf. Zugleich | |
deuten jedoch Indizien darauf hin, dass der Großteil der Funde auf | |
anthropologische und archäologische Sammlungen zurückgeht, die im KWI-A | |
verwahrt wurden. Ein Teil dieser Sammlungen war bereits vor der | |
Institutsgründung zusammengetragen worden, insbesondere während der | |
deutschen Kolonialzeit in allen Teilen der Welt. | |
## Verbindungen zum Vernichtungslager Auschwitz | |
Über eine genauere regionale Herkunft der Menschen, deren Überreste in | |
Dahlem verscharrt wurden, lässt sich, ausgehend von den bisher verwendeten | |
Methoden, nichts sagen. Klar ist aber, dass die Überreste bewusst vergraben | |
wurden, um sie entweder zu entsorgen oder zu verstecken. Die Erkenntnisse | |
von vergangenem Dienstag sind erschreckend. Denn, wie Susan Pollock, die | |
Leiterin der Untersuchungen, hervorhob: | |
Die Überreste sind in jedem Fall mit einer menschenverachtenden | |
Respektlosigkeit auf dem Gelände verscharrt worden. Zugleich weiten die | |
neuen Erkenntnisse den erinnerungspolitischen Blick. Sie legen nahe, dass | |
Unrechtskontexte, die üblicherweise als getrennte Phänomene gedacht werden, | |
sich mitunter überlappen. Und dass diese Überlappungen ein verschränktes | |
und solidarisches Erinnern nötig machen. | |
Die Geschichte des KWI-A, auf dessen Praktiken die Funde zurückgehen, ist | |
selbst eine Geschichte von Überlappungen. Hier wirkten unterschiedliche | |
Unrechtskontexte und verschränkten sich unterschiedliche Machtverhältnisse. | |
Das KWI-A wurde in der Weimarer Republik gegründet und hatte bis 1945 | |
Bestand. Hier in der Ihnestraße 22 wurde darüber geforscht, wie Vererbung | |
im Menschen funktioniert: Ist es das Erbgut, das über Merkmale, Verhalten | |
und Krankheiten im Menschen bestimmt? | |
Oder sind es Umwelteinflüsse? Das war die zentrale Frage, um die sich die | |
Forschungen des Instituts drehten. Mitarbeiter*innen des KWI-A | |
beteiligten sich aber auch aktiv an der Umsetzung eugenischer Maßnahmen, | |
etwa an der behindertenfeindlichen und rassistischen Sterilisierungspolitik | |
der Nationalsozialist*innen, der schätzungsweise 400.000 Personen zum Opfer | |
fielen. | |
## Körperteile aus den Händen Josef Mengeles | |
Das KWI-A unterstützte die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nazis | |
und profitierte zugleich von ihr – auf besonders drastische Weise, als die | |
Biologin Karin Magnussen sich aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau | |
für ihre Forschung Körperteile von dort ermordeten Angehörigen der | |
Sinti-Familie Mechau zusenden ließ. Absender war [4][Josef Mengele], der im | |
Lager als „Arzt“ stationiert war. | |
Die Forschungen des KWI-A bauten auch auf kolonialem Wissen auf: Eugen | |
Fischer hatte 1908 in Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia, | |
Nachfahr*innen von weißen Siedlern und Khoi Khoi beforscht. Er war | |
dadurch zu dem Ruhm erlangt, der ihm den Weg zum Direktorat in Dahlem | |
ebnete. | |
Und er übernahm am Dahlemer Institut eine anthropologische Sammlung mit | |
Gebeinen von mehreren Tausend Menschen, die [5][Felix von Luschan] zum | |
großen Teil während der Kolonialzeit hatte zusammentragen lassen und die | |
auch am KWI-A beforscht wurde. Die Wissensbestände und Ideen, die das KWI-A | |
prägten, lassen sich freilich nicht einfach in Schubladen stecken: hier | |
„koloniales Wissen“, dort „eugenisches Wissen der Weimarer Zeit“, dort | |
„NS-Wissen“. | |
Erst recht nicht aus Sicht von Zeitgenoss*innen, für die sie vermutlich | |
ein Kontinuum bildeten, das ab und an Brechungen und Wendungen aufwies. | |
„Rasse“ ist das zentrale Konzept, das dieses Kontinuum prägte. Aber auch | |
beispielsweise die Figur des „Mischlings“. | |
Zu Zeiten von Fischers Forschungen in Namibia interessierte sie auch | |
deshalb, weil Kolonialverwaltungen sich fragten, welche Positionen und | |
Rechte sie jenen zuweisen sollten, die sich ihrem Versuch entzogen, eine | |
nach den Dichotomien weiß/of color bzw. kolonisierend/kolonisiert | |
segregierte Gesellschaft zu etablieren. Auf keinen Fall dürften diese | |
Personen Weißen gleichgesetzt werden, hatte Fischer gemahnt. | |
## Anthropologisches Gruselkabinett | |
Den Nationalsozialist*innen wiederum lag daran, die Idee | |
Deutschlands als „arisches“ Land Realität werden zu lassen. Das KWI-A | |
unterstützte gerne dabei, indem es als „Mischlinge“ klassifizierte Menschen | |
zur Gefahr stilisierte. Der KWI-A-Mitarbeiter Wolfgang Abel untersuchte | |
afro- und asiatischdeutsche Kinder und Jugendliche und lieferte den | |
NS-Behörden die Rechtfertigung für ihre Sterilisierung. | |
Eine am KWI-A entstandene Doktorarbeit über „deutsch-jüdische Mischlinge“, | |
die eine mangelnde Trennung zwischen Juden/Jüdinnen und | |
Nichtjuden/-jüdinnen als Bedrohung zeichnete, spielte den NS-Behörden in | |
die Hand, die auch als „Halbjude“ oder „Vierteljude“ klassifizierte | |
Personen zunehmend zum Ziel ihrer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik | |
machten. | |
Und Fischers in Namibia gewonnenen Erkenntnisse über „Rassenmischungen“ | |
dienten den NS-Strategen, die über eine effektive Anwendung der Nürnberger | |
Rassengesetze sinnierten, als Referenz. Von den Forschungen und Tätigkeiten | |
des KWI-A waren Personen negativ betroffen, die wir üblicherweise als | |
Angehörige unterschiedlicher „Opfergruppen“ denken: | |
Behinderte, Jüdinnen und Juden, Sinti*zze und Roma*nja, arme Menschen, | |
kolonisierte Menschen, Schwarze Menschen, Asiatischdeutsche, | |
Osteuropäer*innen. Die Liste ist lang – und „vielfältig“. Diese Vielfal… | |
potenziellen Opfern stand auch bei der Präsentation der Erkenntnisse über | |
die menschlichen Überreste an der FU im Mittelpunkt. Anwesende | |
Vertreter*innen von Selbstorganisationen forderten, dass auch sie in | |
die Überlegungen zum Umgang mit den Überresten einbezogen werden. | |
Die FU-Leitung hatte sich darüber bereits mit dem Zentralrat der Juden in | |
Deutschland und dem Zentralrat deutscher Sinti und Roma beraten. Nun | |
forderten einige, dass sich alle relevanten Selbstorganisationen in einem | |
nichtöffentlichen Rahmen gemeinsam auf ein Vorgehen verständigen sollten. | |
Wird das kompliziert? Das muss es nicht. Gern wird in Deutschland die | |
Gefahr von Opferkonkurrenz beschworen. | |
Die sogenannte Causa Mbembe, die 2020 die Feuilletons prägte, ist das | |
jüngste Kapitel in dieser Erzählung. In ihr kritisierten einige an | |
postkolonialen Ansätzen, diese hätten ein grundsätzliches | |
Antisemitismusproblem. Sie legten damit die Ansicht nahe, eine kritische | |
Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Verbrechen sei unvereinbar | |
mit der Würdigung anderer, insbesondere kolonialer Verbrechen. | |
Eine Relativierung der Shoah drohe, wenn andere Verbrechen neben ihr | |
sichtbar gemacht oder gar zu ihr in Bezug gesetzt würden. So die Mahnung, | |
die bereits früher Diskussionen prägte, etwa 2019 jene darüber, dass das | |
Jüdische Museum Berlin auch nichtjüdische Perspektiven thematisierte. Indes | |
sind das Arbeiten gegen Antisemitismus und das Arbeiten gegen andere Formen | |
von Rassismus keineswegs miteinander unvereinbar. | |
Als 1982 der Zentralrat deutscher Sinti und Roma gegründet wurde, war der | |
Weg dorthin auch vom Zentralrat der Juden unterstützt worden. In den | |
1990ern richteten Frauen* eine ganze Reihe von feministischen | |
Bündniskonferenzen aus, in denen sich u. a. „Immigrantinnen, Schwarze | |
deutsche, jüdische und im Exil lebende Frauen“ organisierten. 2013 knüpfte | |
in Berlin die FemoCo-Konferenz an diese Tradition an. | |
## Kooperation der Opfer statt Hierarchie | |
Sie verstand sich als Ort „von und für Frauen, Trans* und Inter*, die sich | |
als Schwarze, of Color, als jüdisch, im Exil lebend, als Sinti und Roma | |
oder als Migrant_innen verstehen“. Projekte wie www.verwobenegeschichten.de | |
erzählen Geschichten von Menschen unterschiedlicher Positionierung bewusst | |
in ihren Verschränkungen. Unter dem humoristischen Label „Tage der | |
Jüdisch-Muslimischen Leitkultur“ wurden im Herbst 2020 ernsthafte | |
Solidarisierungen praktiziert. | |
Ebenfalls im vergangenen Jahr kamen zahlreiche „Communitys“ zusammen, um | |
mit Sinti*zze und Roma*nja gegen die drohende „Verlegung“ des Denkmals | |
für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas zu | |
protestieren. Und erst am Freitag brachte das Berliner Projekt | |
[6][„Dekoloniale“] Schwarze Menschen, Jüd*innen, Asiat*innen, Muslim*a, | |
Sinti*zze und Rom*nja zusammen, um sich über Erfahrungen aus | |
unterschiedlichen Erinnerungskulturen auszutauschen.“ | |
Die Liste ließe sich fortsetzen. Natürlich: Wo Zusammenarbeit und Bündnisse | |
gewagt werden, gibt es auch Streit und Verletzungen. Die Dokumentationen | |
der feministischen Bündniskonferenzen der 1990er zeugen davon. Spezifisch | |
für „Community“-übergreifende Arbeit sind solche Konflikte allerdings | |
nicht. Man denke nur an genderübergreifende linke Bündnisse, die sich immer | |
wieder mit Sexismus in ihren Reihen auseinandersetzen müssen. | |
Keine Räume oder Personen sind immun gegen Rassismen (oder Sexismus). | |
Räume, in denen Menschen mit unterschiedlichen Rassismus- und | |
Diskriminierungserfahrungen zusammenkommen, um gemeinsam gegen | |
Entmenschlichungen zu arbeiten, können aber Orte zu sein, an denen sich | |
wechselseitig und solidarisch auf die eigenen Verstrickungen in | |
Machtverhältnissen hinweisen lässt. Es ist Arbeit, aber nicht kompliziert. | |
27 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Funde-menschlicher-Ueberreste-in-Berlin/!5750486 | |
[2] /Euthanasie/!5589559 | |
[3] /Zu-wenige-Prozesse-gegen-Nazis/!5752123 | |
[4] /Forschung-ueber-den-Holocaust/!5639217 | |
[5] /!s=felix+von+luschan/ | |
[6] https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/erbe_und_vermittlung/d… | |
## AUTOREN | |
Manuela Bauche | |
## TAGS | |
Freie Universität Berlin | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Deutscher Kolonialismus | |
Achille Mbembe | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Sexismus | |
Schlagloch | |
Postkolonialismus | |
MPG | |
MPG | |
Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus | |
taz.gazete | |
Achille Mbembe | |
Schlagloch | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
Antirassismus | |
Humboldt Forum | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Deutsche Erinnerung an Kolonialismus: Maji-Maji als Metapher | |
Deutschland tut sich schwer mit der Anerkennung kolonialer Vergangenheit. | |
Postkolonialismus hat wenig Raum. | |
Bestattung von Knochenfragmenten: Bitte keine weiteren Untersuchungen | |
Seit 2015 wurden immer wieder bei Bauarbeiten auf dem Campus der Freien | |
Universität Berlin menschliche Überreste gefunden. Nun wurden sie | |
beigesetzt. | |
Lern- und Gedenkstätte in Berlin-Dahlem: Nicht einfach entsorgen | |
Die Forderung, das ehemalige KWI-Institut in Dahlem zu einer Gedenkstätte | |
umzubauen, steht im Raum. Noch befindet sich die Debatte am Anfang. | |
Knochenfunde auf Gelände der FU-Berlin: Die unbequemen Knochen aus Dahlem | |
Die Herkunft der 16.000 Knochenteile, die auf dem Gelände der FU Berlin | |
gefunden wurden, ist nicht geklärt. Gefordert wird ein Gedenk- und Lernort. | |
Benin-Kunstwerke in Berlin: Bronzen für Preußen | |
Wie die geraubten Kunstwerke aus Benin, die im wieder errichteten Berliner | |
Stadtschloss präsentiert werden sollen, nach Deutschland kamen. | |
Debatte über Politik und Medien: Aus deutscher Tiefe | |
Die Historikerin Hedwig Richter und der „Zeit“-Vize Bernd Ulrich haben das | |
Sonderwegsdenken deutscher Eliten angeprangert – zu Unrecht. | |
Debatte um Holocaust und Kolonialismus: Lob des Zweifels | |
Die Debatte um das Verhältnis von Holocaust- und Kolonialismus-Erinnerung | |
ist von Opferkonkurrenz geprägt – und wird zu unversöhnlich geführt. | |
Debatte um Erinnerungskultur: Lob der Verunsicherung | |
Die Bezeichnung „zweiter Historikerstreit“ für die Debatte über Shoah und | |
Kolonialverbrechen ist irreführend. „Singularität“ taugt nicht als Waffe. | |
Funde menschlicher Überreste in Berlin: Wohin mit den Knochen? | |
Auf dem Gelände der Freien Universität wurden 16.000 Knochenfragmente | |
gefunden. Nun fragt sich: Soll man sie weiter erforschen – oder bestatten? | |
Black History Month in Berlin: Der Zukunft zugewandt | |
Schwarze Initiativen erinnern an das koloniale und rassistische Erbe | |
Berlins. Sie kämpfen für die Auseinandersetzung mit Schwarzen Perspektiven. | |
Ein Jahr nach Hanau: Eine verheerende Bilanz | |
Die Bedrohung migrantisierter Menschen werde weiter nicht anerkannt, klagt | |
das Berliner Bündnis Hanau-Gedenken ein Jahr nach den rassistischen Morden. | |
Wissenschaftlerin über Uni-Lehrpläne: „Curriculum nicht divers genug“ | |
Rassismuskritik ist die Aufgabe aller Fachrichtungen, sagt die | |
Bildungsforscherin Jennifer Danquah. Bisher hänge sie zu sehr an | |
engagierten Einzelpersonen. | |
Digitale Eröffnung des Humboldt Forums: Die Kritiker umarmen und erdrücken | |
Die Kolonialismusdebatte rund um die Ausstellungsstücke im Humboldt Forum | |
nimmt zur Eröffnung groteske Züge an. Überraschend ist das nicht. |