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# taz.de -- Knochenfunde auf Gelände der FU-Berlin: Die unbequemen Knochen aus…
> Die Herkunft der 16.000 Knochenteile, die auf dem Gelände der FU Berlin
> gefunden wurden, ist nicht geklärt. Gefordert wird ein Gedenk- und
> Lernort.
Bild: Die ehemalige Villa der Institutsdirektoren auf der Rückseite des frühe…
Berlin taz | Vor genau zwanzig Jahren, im Juni 2001, trafen auf dem Gelände
des zwischen 1927 und 1945 bestehenden Kaiser-Wilhelm-Instituts für
Anthropologie, menschliche Erblehre und Genetik (KWIA) überlebende Frauen
und Männer der berüchtigten Zwillingsexperimente des SS-Lagerarztes in
Auschwitz, Josef Mengele, und die „Erben“ der
[1][Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft], Repräsentanten der
Max-Planck-Gesellschaft (MPG), zusammen.
Eva Mozes Kor und Jona Laks gehörten zu den 1.500 Zwillingspärchen
Mengeles, die in verbrecherischer Weise für die nationalsozialistische
„Forschung“ ausgebeutet und größtenteils ermordet wurden. Im Rahmen des
Projekts der [2][„Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im
Nationalsozialismus“] kam es ihnen stellvertretend für die Opfer zu, die
Entschuldigung des damaligen MPG-Präsidenten Hubert Markl entgegenzunehmen.
„Sie wollen die Nazivergangenheit aufräumen“, erklärte die in Tel-Aviv
lebende Jona Laks damals. „Wir verlangen von Ihnen, dass Sie sich an das
erinnern, was Sie aufräumen.“ Was hätten die beiden Frauen empfunden, wenn
sie gewusst hätten, dass sie damals auf einem Knochenfriedhof des KWIA
standen?
Die Worte Laks könnten aber prophetisch über das gespannt sein, was die
einschlägige Wissenschafts-Community, betroffene Institutionen und eine
interessierte Öffentlichkeit in mehreren Aufmerksamkeitswellen bis heute
umtreibt: Vergangenheitsbewältigung als „Aufräumarbeit“, von der
pflichtschuldigen Abbitte 2001 bis zur symbolischen Kranzniederlegung 2015
anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz vor dem
Otto-Suhr-Institut, das nach der Gründung der Freien Universität (FU) in
Gebäude des KWIA eingezogen ist? Oder eine auf die Gegenwart und Zukunft
bezogene Erinnerungsarbeit, die den Alltag der Forschenden infiltriert und
einen Dialog über Verantwortung und Grenzziehungen der Wissenschaft
entfaltet?
Die Fakten sind weitgehend bekannt. Die [3][Knochen, die im Juli 2014 im
Rahmen von Bauarbeiten zufällig im ehemaligen Garten des KWIA gefunden
wurden], gelangten in die Rechtsmedizin der Charité, offenbar ohne für die
Polizei und die Forensik ausreichend instruierende Informationen zum
historischen Hintergrund. Im Dezember werden sie eingeäschert und neben dem
Krematorium Ruhleben begraben. Nach der öffentlichkeitswirksamen
Berichterstattung beraumt die FU kurzfristig die genannte Gedenkfeier an
und initiiert zusammen mit der MPG und dem Landesdenkmalamt Berlin eine bis
heute tätige Kommission.
Im Oktober 2015 werden Susan Pollock und Reinhard Bernbeck als
archäologische Expert:innen beauftragt, die Fundstelle zu überprüfen.
Sie stoßen auf zwei weitere Gruben, aus denen sie menschliche und tierische
Knochen sowie die Gipsabformung eines toten Mannes bergen. Zusammen mit den
ebenfalls aufgefundenen, im Archivalltag üblichen Auszeichnungsplaketten
kann davon ausgegangen werden, dass die circa 16.000 geborgenen Fragmente
aus den Beständen des KWIA stammen und mindestens 54, maximal 100 Personen
zugeordnet werden könnten. Ein Bericht für das Landesdenkmalamt bleibt
unter Verschluss.
Seitdem Pollock auf einer [4][Informationsveranstaltung der FU im Februar
2021] über die Funde berichtete, ist die Spekulation über die Herkunft der
Menschenüberreste wieder hochgekocht, und auch die Informationspolitik der
FU steht weiter unter Verdacht. Stammen die Knochen aus einer Ende der
zwanziger Jahre vom KWIA übernommenen anthropologischen Sammlung, wie sie
im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch vom Deutschen Reich in kolonialen
Raubzügen zusammengetragen worden war, und die dann, weil sich die
Wissenschaft weiterentwickelt hatte, entsorgt wurde?
Oder handelt es sich tatsächlich um „Wissenschaftsgaben“ aus der
KZ-Versuchsanstalt Mengeles, von wo – wissenschaftlich gesichert –
Humanpräparate wie Augäpfel, Blutproben und Skelettteile nach Dahlem ans
KWIA geliefert worden sind? Das ist die These, [5][die Götz Aly kürzlich in
einem Aufsehen erregenden Bericht in der Berliner Zeitung zu bestärken
versuchte] und das „ignorante Nichtstun“ des Präsidenten der FU, des
Mathematikers Günter M. Ziegler, inkriminierte.
## Widersprechende Aussagen
Gesichert ist, dass die FU am 2. Juli 2014 das Präsidium der MPG von den
Knochenfunden unterrichtet hat, wie Berthold Neizert, Abteilungsleiter für
Forschungspolitik und Außenbeziehungen der MPG, mitteilt. Öffentlich hat
sich die MPG allerdings erst in einer Pressemitteilung vom 27. Januar 2015
anlässlich der Kranzniederlegung dazu geäußert.
Darin heißt es, dass „zu keinem Zeitpunkt ein direkter Kontakt zwischen der
Max-Planck-Gesellschaft und den Behörden“ bestand, da die MPG „nicht
Eigentümerin des Grundstücks“ sei. In einer gegen Alys Beitrag gerichteten,
als Artikel aufbereiteten Gegendarstellung des FU-Präsidenten [6][in der
Berliner Zeitung wird allerdings betont: „Die FU und die MPG haben sich
darum bemüht, die Knochen angemessen und würdevoll beizusetzen.“]
Fragwürdig indessen erscheint Götz Alys reißerische, eher spekulative als
bewiesene Behauptung, dass es sich bei den Knochenfunden nicht um Überreste
der im KWIA beherbergten anthropologischen Sammlung handelt, sondern
womöglich doch um Sendungen aus dem KZ Auschwitz. Er bezieht sich dabei auf
die Erinnerungen des ungarisch-jüdischen Arztes Miklós Nyszli, der Mengele
assistieren musste und von der Präparierung zweier männlicher Leichen
berichtet, die auf Anweisung Mengeles nach Berlin verschickt wurden. Vom
KWIA und dessen letztem Leiter, Otmar von Verschuer, ist nicht die Rede.
Susan Pollock und Reinhard Bernbeck haben Alys Annahmen sofort
zurückgewiesen. [7][In einem Beitrag im Berliner Tagesspiegel beschreiben
sie dezidiert die Funde in den drei Gruben] und erklären, dass Auschwitz
als Herkunftsort einzelner Knochen zwar nicht auszuschließen sei, die
osteologische Untersuchung der Funde aber in unterschiedliche, auch in
Richtung koloniale Vergangenheit führen.
Der ihnen zuarbeitende Historiker Axel Hüntelmann konnte in seiner
minutiösen Archivrecherche, deren Ergebnisse der taz vorliegen, weder
unmittelbare Beweise für Auschwitz als Herkunftsort eruieren, noch scheint
ihm diese Theorie plausibel im Hinblick auf die veränderte
wissenschaftliche Ausrichtung des Instituts seit Ende der zwanziger Jahre
und seine chaotische Auflösung kurz vor Kriegsende. Wahrscheinlicher sei
eine „Entsorgungsaktion“ von Teilen der anthropologischen Sammlung, der
sich das Institut habe entledigen wollen. Handfeste Beweise gibt es dafür
ebenfalls nicht.
Über die Herkunft der Knochenfunde hinaus liegt das Augenmerk der
Auseinandersetzung nun auf den Umgang mit den Knochen und dem Fundort, und
hier fällt tatsächlich eine Neigung zur Verantwortungsverschiebung auf.
Nach beidem gefragt, verweist Neizert von der MPG immer wieder auf die
Verantwortung der FU als Eigentümerin des Geländes oder auf die
beauftragten FU-Archäologen und die Vertreter der Opfer: „Wie mit den
Knochen umgegangen werden kann, hat Frau Pollock bereits gut dargestellt.
Deren weitere invasive Untersuchung ist nicht nur eine wissenschaftliche,
sondern auch eine ethische Frage, weil es auch um den Respekt vor der
Totenruhe geht. Als Wissenschaftler ist man in einem Dilemma, denn das, was
man mit invasiven forensischen Methoden noch aufklären könnte, muss in
Beziehung gesetzt werden zu den Empfehlungen der Opferverbände.“
## Keiner will entscheiden
Doch auch die Grabungsverantwortlichen und die FU verstecken sich hinter
den Zentralräten der Juden und der Sinti und Roma und den Berliner
Selbstorganisationen von Nachkommen ehemaliger Kolonisierter, die keine
weiteren Nachforschungen wünschten. Solche Erklärungen liegen offiziell
bislang aber gar nicht vor, sie werden nur aus Gesprächen kolportiert, die
FU-Präsident Ziegler mit den Opfervertretern geführt hat. Auch die
Botschaften der Länder, aus denen die Teile der anthropologischen Sammlung
möglicherweise stammen könnten, wurden bisher offenbar nicht kontaktiert.
Seitens einschlägig ausgewiesener Wissenschaftler:innen aus
Deutschland, Israel und den USA wurde in Briefen an die FU, das
Landesdenkmalamt und die MPG vorgeschlagen, das Gelände und Gebäude des
ehemaligen KWIA in einen wissenschaftshistorisch informierenden Gedenk- und
Lernort umzuwandeln, an dem nicht nur der Opfer gedacht wird, sondern das
historische Wissen über die Grenzüberschreitungen von kolonialzeitlicher
und NS-Wissenschaft verdichtet und für Studierende zugänglich gemacht wird.
Ein solcher „lieu de mémoire“ wäre im Sinne des 2017 begründeten Wiener
Protokolls, das erstmals Leitlinien zum Umgang mit zeithistorisch brisanten
Ausgrabungsstätten formuliert. Die MPG, erklärt Neizert, sei jedenfalls
bereit, sich an Aktivitäten im gesamten Komplex des Campus Dahlem zu
engagieren. „Uns geht es darum, jungen Menschen in Berlin und anderswo
aufzuzeigen, was gute wissenschaftliche Praxis im Forscheralltag bedeutet,
und an die Geschichte der MPG und die Verantwortung des Wissenschaftlers
heranzuführen.“ Das sei aber nicht nur an den Ort Ihnestraße 22/24
gebunden.
Doch das Dreieck zwischen Ihne-, Harnack- und Garystraße, wo sich heute das
OSI, die Uni-Bibliothek und das Harnack-Haus befinden, ist ein besonderer
Geschichtsort; und dem KWIA kam, wie in den Forschungen zur Geschichte der
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nachzulesen ist, in den grenzüberschreitenden
Bewegungen der NS-Wissenschaft eine ganz besondere Rolle zu, dessen Erbe
nicht nur die FU in substanzieller, sondern auch die MPG in
wissenschaftlicher Hinsicht ist.
Ein vorläufiges Zeichen dieser Verantwortung wäre es, zumindest die Arbeit
der erwähnten Kommission, von der bisher so gut wie nichts nach außen
dringt, und in der – nebenbei – auch niemand aus dem ehemaligen
KWI-Forschungsprogramm sitzt, transparenter zu machen.
25 Jun 2021
## LINKS
[1] /Neues-Buch-Club-der-Nobelpreistraeger/!5476637
[2] https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/publications.htm
[3] /Auf-Gelaende-der-Freien-Universitaet-Berlin/!5336790
[4] /Funde-menschlicher-Ueberreste-in-Berlin/!5750486
[5] https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/knochenfunde-auf-dem-fu-ge…
[6] https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/debatte-um-die-knochenfund…
[7] https://www.tagesspiegel.de/wissen/moegliche-verbindungen-zur-kolonialzeit-…
## AUTOREN
Ulrike Baureithel
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