# taz.de -- Gedenken an Opfer der „Rassenkunde“: Der lange Weg zur Erinneru… | |
> Wo heute Politikwissenschaftler forschen, wirkten unter den Nazis die | |
> „Rassenkundler“ wie Josef Mengele. Jetzt gibt es einen Gedenkort. | |
Bild: Von der „Zwilingsforschung“ waren die „Rassenkundler“ faziniert. … | |
„Wissenschaftler haben Inhalt und Folgen ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu | |
verantworten.“ Dieser Satz am Eingang des ehemaligen | |
Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und | |
Eugenik (KWI-A) steht auf einer Gedenktafel in Berlin-Dahlem. Er steht | |
dort, weil von hier Wissenschaftler:innen von 1927 bis 1945 die | |
„Rassenforschung“ in Deutschland entscheidend mitprägten und | |
Menschenrechtsverbrechen förderten und begingen. | |
Die am Dienstag eröffnete Ausstellung „Gedenkort Ihnestraße – Wissenschaft | |
und Unrecht“ zeigt dies. Sie macht die seit Jahrzehnten bekannte Geschichte | |
sichtbar: Wie an diesem Ort an Schädeln von Ermordeten aus der ehemals | |
deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia, geforscht wurde, | |
Josef Mengele Augen und Blutproben aus dem Konzentrationslager Auschwitz | |
hierher schickte, in die Ihnestraße 22 in Berlin, damit die | |
„Rassenforscher:innen“ damit „arbeiten“ konnten. Wie eine | |
Bevölkerungspolitik der Auslese politisch gefördert und mit | |
Zwangssterilisationen umgesetzt wurde, etwa bei Menschen mit | |
(vermeintlicher) Behinderung. | |
Sie schufen Geschichten wie die von Hildegard B. „Sie konnte beforscht | |
werden, weil sie als Person mit Behinderung interniert worden war in den | |
Wittenauer Heilstätten, hier nördlich von Berlin“, erzählt Manuela Bauche, | |
wissenschaftliche Leiterin der Ausstellung. Mitarbeiter des KWI-A hätten | |
sich das zunutze gemacht und anhand ihrer Handlinien versucht, Behinderung | |
zu konstruieren, eine Art „Marker“ zu finden, erklärt Bauche. Hildegard B. | |
wurde 1938 zwangssterilisiert und mit hoher Wahrscheinlichkeit von den | |
Nazis ermordet. | |
In dem Gebäude, in dem heute Studierende der Politikwissenschaft | |
unterrichtet werden, wird die Geschichte des Gebäudes offenbar: Im heutigen | |
Hörsaal lauschten einst Beamte „Rassenkundlern“. Am Ende des steinernen | |
Flures trafen Forscher Entscheidungen über Zwangssterilisationen. In den | |
Seminarräumen im Keller wurden Zwillinge vermessen und Organe gelagert. | |
Neues Wissen für viele angehende Politolog:innen hier. | |
## „Wir vergessen euch nicht“ | |
Für Betroffenengruppen, die an der Ausstellung mitgewirkt haben, ist das | |
nichts Außergewöhnliches. „Es ist kein besonderer Ort, es ist ein weiterer | |
Ort“, sagt Doron Kiesel vom Zentralrat der Juden in Deutschland. „Dieser | |
Ort ist ein Ort der Trauer für mich, wenn ich an meine Vorfahren denke, die | |
hierher gebracht wurden durch diese Vermessungen und Entmenschlichungen“, | |
erzählt Israel Kaunatjike, Vertreter der namibischen Ova-Herero. „Ich bin | |
hergekommen, um zu sagen: Wir sind da, wir vergessen euch nicht“, so | |
Kaunatjike. | |
Die Täter können nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Das Personal | |
des KWI-A konnte nach dem Krieg recht ungehindert weiterarbeiten. | |
Institutsleiter Otmar von Verschuer etwa, von einer Spruchkammer lediglich | |
als „Mitläufer“ eingestuft, arbeitete als Professor für Genetik in Münst… | |
bis 1965. Hermann Muckermann, von 1927 bis 1933 Abteilungsleiter für | |
Eugenik im KWI-A, war Professor an der Technischen Universität Berlin und | |
lehrte nach dem Krieg auch an der Freien Universität. Die Vergangenheit der | |
Forscher schien schlicht kein Problem zu sein. | |
## Säcke voller Menschenknochen | |
Für die Vergangenheit des Gebäudes galt anscheinend dasselbe. Seit 1948 | |
gehört das KWI-A-Gebäude zur Freien Universität, 1974 zog das Institut für | |
Politikwissenschaft ein. Daraufhin erforschte eine Gruppe von | |
Hochschullehrer:innen die Geschichte des ehemaligen | |
Kaiser-Wilhelm-Instituts und entschied 1987, einfach selbst eine | |
Gedenktafel an das Institut zu schrauben, ohne Genehmigung der Uni-Leitung. | |
„Weder die FU noch die Max-Planck-Gesellschaft, Nachfolgerin der Trägerin | |
des Kaiser-Wilhelm-Instituts, waren bisher bereit, öffentlich an die | |
Tätigkeit des Instituts zu erinnern. Dabei sei seit 1983 bekannt, welche | |
Art von Forschung das Institut betrieb“, zitiert das Spandauer Volksblatt | |
Sprecher der Gruppe. | |
Der Leiter des Max-Planck-Archivs protestierte, die FU ließ die Tafel | |
entfernen und einen neuen Text entwerfen. Seit 1988 hängt nun eine neue | |
Tafel am Gebäude, auf dem bereits erwähnter Satz mit der Verantwortung | |
steht. Ab 2013 kritisieren Studierende öffentlichkeitswirksam, dass die | |
Tafel Leerstellen aufweise und die Geschichte des KWI-A im Studium nicht | |
vermittelt werde. | |
Die Studierendengruppe erarbeitete selbstständig eine Ausstellung, die 2013 | |
für kurze Zeit im Institutsgebäude gegenüber zu sehen war. Übrigens: | |
Erinnert wird in dem Gebäude nicht nur an das KWI-A, sondern mit einer | |
kleinen Fotoausstellung seit den 1990er Jahren auch an die während des | |
Nationalsozialismus verfolgten Mitglieder der 1920 gegründeten Deutschen | |
Hochschule für Politik, die im Otto-Suhr-Institut aufging. | |
## Der Fund der Bauarbeiter | |
Im Jahr 2014 stießen Bauarbeiter nahe dem Institut auf Tier- und | |
Menschenknochen. Säckeweise. Wegen Fehlkommunikation wurden die Knochen | |
eingeäschert, erst danach wurde debattiert, ob eine Verbindung zum KWI-A | |
bestanden haben könnte. Dadurch bekam die Diskussion um eine Ausstellung | |
neuen Auftrieb, zudem erfolgten archäologische Grabungen, bei denen weitere | |
16.000 Knochenstücke gefunden wurden. | |
Von wem die Knochen stammen, darauf gibt es keine finale Antwort. „Es ist | |
nicht auszuschließen, dass Knochen von Ermordeten während der NS-Zeit | |
stammen, aber es gibt keinen expliziten Hinweis darauf“, sagt Historikerin | |
Manuela Bauche. Die Betroffenengruppen einigten sich darauf, keine | |
Untersuchungen an den Knochen vorzunehmen, die sie weiter beschädigen | |
würden. | |
17 Oct 2024 | |
## AUTOREN | |
Julian von Bülow | |
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