# taz.de -- Gesundheitsamt Frankfurt in NS-Zeit: Sensibles Erbe | |
> In „Erbkarteien“ wurden Menschen vermerkt, die als „erbkrank“ und | |
> minderwertig galten. In Frankfurt unterstützt man die historische | |
> Aufarbeitung der Daten. | |
Bild: Massenhaft Daten: Akten im Frankfurter Gesundheitsamt in der Zeit von 193… | |
Frankfurt am Main taz | Das Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt | |
sammelt viel Papier, auch die sogenannte „Erbkartei“ ist hier gelagert. In | |
der wurden ab 1933 Menschen vermerkt, die davon abwichen, was man sich im | |
Nationalsozialismus als die Norm vorstellte, und die das Gesundheitsamt | |
„sozialhygienisch“ überwachte. „Das sind 244 Kästen“, sagt eine | |
Mitarbeiterin und holt einen der Pappkartons aus einem hohen Regal. Die in | |
den Kartons aufgereihten Karten sind verblasst. | |
Auf einen ersten Blick finden sich nur wenige Informationen auf dem Papier: | |
der Name der jeweiligen Person, das Geburtsdatum, der Geburtsort, die | |
Wohnadresse. Bedeutsam auf den Karten war vor allem ein Kreuz, zum Beispiel | |
bei: „Psychiatrische Klinik“, „Frauenklinik“ oder „Trinkerfürsorgest… | |
Dieses Kreuz verweist dann auf weiteres Papier – Akten, die damals von den | |
Institutionen angelegt wurden und die teilweise ebenfalls hier im Magazin | |
lagern. | |
Relevant waren die Karten ab 1933 unter anderem bei Anträgen auf | |
Eheschließung, bei Bewerbungen um eine Stelle im städtischen Dienst, | |
Adoptionen oder Entscheidungen über Zwangssterilisationen von Frauen und | |
Männern. Auch für sogenannte Eheberatungsstellen wurde die Kartei damals | |
genutzt. | |
Gerade aus der Zeit des Nationalsozialismus werde praktisch nichts | |
weggeworfen, sagt die Mitarbeiterin des Instituts für Stadtgeschichte: „Das | |
Forschungsinteresse zu dieser Zeit ist besonders groß.“ Die Kartei darf für | |
wissenschaftliche Zwecke genutzt werden, „wenn sichergestellt werden kann, | |
dass schutzwürdige Belange der betroffenen Personen oder Dritter nicht | |
beeinträchtigt werden (zum Beispiel durch Anonymisierung) oder wenn das | |
öffentliche Interesse an der Durchführung des konkreten Forschungsvorhabens | |
die schutzwürdigen Belange überwiegt“, führt Sebastian Tripp, der den | |
Arbeitsbereich als Kommissarischer Archivdirektor leitet, aus. | |
## Die Frage nach der Vernetzung | |
Eine der Personen, die zur Erbkartei geforscht hat, ist der Historiker Jens | |
Kolata vom Frankfurter Fritz Bauer Institut. „[1][Krankheit, Wissen, | |
Disziplinierung]“ heißt sein in diesem Jahr erschienenes Buch über die | |
„Öffentliche Gesundheitsfürsorge in Frankfurt am Main zwischen | |
Sozialhygiene und Eugenik 1920–1960“. Kolata ging der Frage nach, wie das | |
Gesundheitsamt Frankfurt in der Betreuung und Überwachung der Menschen | |
agierte – und wie verschiedene Akteure dabei vernetzt waren: Behörden, | |
Krankenhäuser, Heime und die Polizei. | |
Er stellt dabei fest, dass man die Tätigkeit des Stadtgesundheitsamts in | |
einem Beziehungsgeflecht verstehen müsse. Und dass auch die Kontinuitäten, | |
die die Papiere deutlich machen, interessant seien. So stamme der jüngste | |
Eintrag auf einer Kartei der erhobenen Stichprobe aus dem Jahr 1968. | |
Im Gespräch sagt Kolata, dass dieser späte Eintrag auf eine Akte der | |
„Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke“ verweist. Den Eintrag erkl… | |
er sich durch personelle Kontinuitäten, viele Mitarbeitende blieben nach | |
Kriegsende in ihren Positionen. „Ich habe mir die Personalakte der Leiterin | |
der Abteilung für Erb- und Rassenpflege aus der NS-Zeit angesehen.“ | |
Dieselbe Person war in den 60ern dann zugleich als Leiterin der | |
„Beratungsstelle für Ehefragen“ und als Mitarbeiterin der „Fürsorgestel… | |
für Gemüts- und Nervenkranke“ tätig. | |
Auch die Adoptionsabteilung des Jugendamtes hat die Erbkartei bis in die | |
1960er Jahre genutzt – wohl um Daten zu ermitteln, die für oder gegen eine | |
Adoption sprechen sollten. Kolata geht davon aus, dass die Abteilung vor | |
einer Adoption prüfen wollte, ob Kinder als „erblich belastet“ galten, weil | |
etwa ihre Eltern eine psychiatrische Diagnose bekommen haben, die die Nazis | |
entsprechend ihrer eugenischen Vorstellungen als erblich und die Menschen | |
als minderwertig ansahen. [2][Das eugenische Schlagwort] von der | |
„Vernichtung lebensunwerten Lebens“ findet sich bereits im Titel einer 1920 | |
vom Psychiater Alfred Hoche und dem Strafrechtler Karl Binding | |
herausgegebenen Broschüre, „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten | |
Lebens“. Die Nazis knüpften daran an. | |
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die „Erbkartei“ in Frankfurt noch | |
weiterverwendet, jedoch hatte sich die Bezeichnung der zuständigen | |
Dienststelle geändert. Die zwischenzeitliche Umbenennung der „Abteilung für | |
Erb- und Rassenpflege“ erst zu „Abteilung für Erbpflege“ und schließlic… | |
„Beratungsstelle für Ehefragen“ betrachtet Kolata als bezeichnend. „In d… | |
ersten Nachkriegsjahren wurde das auf ausgeschriebenen Formularen zum Teil | |
händisch umgeschrieben“, sagt er, man strich die Bezeichnung „Rasse“ | |
einfach durch. Kolata erklärt sich das damit, dass der Begriff „Rasse“ im | |
Unterschied zu „Erbpflege“ als politisch belastet galt. | |
Das Besondere am Gesundheitsamt in Frankfurt sei, dass die Stadt schon früh | |
eine Erbkartei angelegt habe, erklärt Kolata. Während die Erbkarteien für | |
alle Gesundheitsämter ab 1935 verpflichtend war, begann Frankfurt bereits | |
1933 mit der Erfassung. Besonders sei aber auch, dass sich das | |
Gesundheitsamt Frankfurt heute mit seiner Geschichte auseinandersetze, sagt | |
Peter Tinnemann, der das Gesundheitsamt leitet. Die Stadt hat Kolatas | |
Forschung finanziell gefördert. | |
## Die Bezüge zu heute | |
Tinnemann findet es wichtig, sich mit der Geschichte zu befassen – auch um | |
Bezüge zu heute herzustellen. „Wir müssen uns immer wieder fragen, ob der | |
Weg, den wir gehen, der Richtige ist“, sagt er. „Und wir Ärzte im | |
Gesundheitsamt haben die historische Verpflichtung nachzudenken, was heute | |
unsere Aufgabe ist.“ | |
Wichtig sei auch, sich zu fragen, auf was etwa Rechtsradikale heute | |
zugreifen könnten, wenn sie nochmal an die Macht kämen. Ein Gesundheitsamt | |
erfülle seinen Auftrag auf gesetzlichen Grundlagen, die von | |
gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig sind. | |
Auch würden Daten weiterhin gesammelt werden. Das Besondere an den | |
Gesundheitsämtern während des Nationalsozialismus sei jedoch die Tatsache | |
gewesen, dass sie damals Zugriff auf Daten aus unterschiedlichen Behörden | |
hatten und diese für den Versuch genutzt wurden, Menschen, die in der | |
Naziideologie nicht gepasst haben, „auszusortieren“, sagt Tinnemann. | |
Dass eben durchaus auch sensible Dokumente weiterhin aufgehoben werden, | |
findet er wichtig. Es sei ein Abwägen, welche historischen Akten für eine | |
künftige Gesellschaft von Interesse sein könnten. Als Beispiel verweist | |
Tinnemann auf die Akte der ersten Alzheimerpatientin. Oder, als ganz junger | |
Fall fürs Archiv: Unterlagen, die im Zusammenhang mit der Coronapandemie | |
entstanden. | |
Das Archiv des Instituts für Stadtgeschichte füllt sich immer weiter – mit | |
Material, das sich dann künftige Generationen von Historiker:innen | |
ansehen können, wenn es auch Geschichte geworden ist. | |
10 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.wallstein-verlag.de/9783835355880-krankheit-wissen-disziplinier… | |
[2] /Buch-ueber-Eugenik-in-Deutschland/!6033872 | |
## AUTOREN | |
Lea De Gregorio | |
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